Der Pakt der Wächter: Roman
besetzt.
Sorgsam lösen wir die Scharniere, Eisenbänder und Haken, mit denen der dachförmige Deckel des Sarges befestigt ist. Dann nehmen wir zu viert vorsichtig den Deckel ab. Die vier Wände des Sarges sind wiederum mit Scharnieren befestigt.
Im Inneren liegt der ursprüngliche Holzsarg, der mit längst verrotteten Stoffen bedeckt ist. Das Holz selbst wirkt aber noch solide und hart. Der Deckel des inneren Sarges ist mit sechsundsechzig Kupfernägeln befestigt worden.
Wir entfernen Nagel für Nagel, bis wir den Deckel lösen und abnehmen können.
Die Gebeine Olavs des Heiligen sind mumifiziert.
Die Mumie ist teilweise mit einem bestickten Gewand bedeckt. Er ruht, die Arme auf der Brust überkreuzt. In den Händen hält der König ein goldenes Zepter. Es ist an dem einen Ende wie ein Anch geformt und am anderen wie das Runenzeichen Ty. Etwa in der Mitte ist ein Querstab befestigt worden.
Anch, Ty und Kreuz in einem.
Mehrere Minuten stehen wir still da und betrachten die sterblichen Überreste des heiligen Königs. Draußen ist Wind aufgekommen. Die Bäume zittern in den Böen.
Die Lewinski-Sammlung
1
Es klopft an der Tür meines Büros.
Schon seit ein paar Tagen gehe ich die Berichte der verschiedenen Fachrichtungen durch, die an der Erforschung der Höhle und der sterblichen Überreste beteiligt sind.
Irritiert werfe ich einen Blick zur Tür und bleibe still sitzen, in der Hoffnung, dass sich das Klopfen von alleine gibt.
Aus Furcht vor Abgesandten des Vatikans hatten die Wächter die ägyptische Mumie aus der Höhle auf Selja entfernt – oder vielleicht auch aus dem provisorischen Versteck in einer der Stabkirchen – und zu Snorri nach Island gebracht. Dort bewachte erst er die Mumie und nach ihm Thordur kakali. Wir wissen nicht, wer die Bewachung der Mumie übernommen hat, nachdem Thordur zum König von Norwegen gerufen worden war. Warum wurde der Sarg fortgeschafft? Und wohin? Und warum ließen sie die Schätze und den Olavsschrein zurück?
Erneut klopft es an der Tür. Dieses Mal fester.
Ich habe meinen Verfolgungswahn in einen Kokon aus selbstsicherer Gleichgültigkeit eingesponnen. Ich habe gewonnen. Der Scheich hat verloren. Die Legionen seiner Mörder, Spione und gedungenen Verfolger sind gemeinsam mit Hassan resigniert und mit hängenden Köpfen zurückgekehrt – in den Staub gezwungen von einem Dozenten der Archäologie. Tagelang habe ich meine Schadenfreude mit unbescheidener Selbstzufriedenheit gepflegt.
»Bjørn?« Die Tür geht auf. »Ich bin’s!«
Thrainn.
Ich umarme ihn herzlicher, als es der Dr. phil. von einem Dozenten der Uni erwartet.
»Ich habe versucht, Sie anzurufen«, sagt er.
»Tut mir leid. Ich habe mein Handy ausgeschaltet. Es hat die ganze Zeit geklingelt. Was machen Sie hier?«
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, das Ihnen vielleicht von Nutzen sein kann. Und dann will ich weiter nach Selja, um mir diese Höhle mal genauer anzuschauen. So etwas erlebt man doch bestenfalls einmal im Leben.«
Unter dem Arm trägt er eine große Dokumentenmappe.
»Die Übersetzung des Bibelmanuskripts?«
Er schüttelt den Kopf. »Daran wird noch gearbeitet. Höchst verwirrend das Ganze. Der Text stimmt phasenweise mit den alten Bibelversionen überein, dann aber auch wieder nicht. Sie halten es nicht für ausgeschlossen, dass es sich um eine Art Schwarzkopie eines verwirrten Mönches handeln könnte, der beim Kopieren einfach seine eigenen Ideen in den bekannten Bibeltext eingefügt hat.«
Er öffnet die Dokumentenmappe und nimmt ein paar großformatige Fotografien eines Manuskriptes heraus. »Ich habe die interessantesten Seiten in Originalgröße abfotografiert. Erstklassige Fotoqualität! Sie sehen sogar noch die ungleichen Schattierungen der Tinte.«
»Was ist das?«
»Das Flateybok. Codex Flatöiensis . Die größte und schönste der isländischen Handschriftensammlungen. Vielleicht das wichtigste Mittelalterdokument aus Island. Zweihundertfünfzig Seiten feinstes Pergament, handbeschrieben, illuminiert und illustriert. Der Text wurde 1387 begonnen von...«
»Thrainn! Warum haben Sie diese Kopien mitgebracht?«
»Weil der Codex Flatöiensis mehr beinhaltet als die anderen Schriften. Sie finden darin fast alle Königssagen, so auch die Saga von Olav Tryggvason und Olav dem Heiligen, aber eben auch historische Informationen. Das Flateybok beinhaltet zum Beispiel abweichende Versionen der Saga von Olav dem Heiligen. Früher meinten die Historiker, Snorris
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