Der Pakt der Wächter: Roman
verraten.«
»Wie?«
»Viele glauben, Kolumbus habe die europäische Dekadenz und damit das Verderben nach Amerika gebracht. Amerikas Entdeckung durch Europa war der Untergang der Eingeborenen. Und definitiv der Untergang der Wächter. Sie ließen sich korrumpieren, ohne Ausnahme. Vom Geld. Von der Macht. Von den Stellungen, die ihnen angeboten wurden. Esteban und ich stammen von unwürdigen Verrätern ab.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Die karibischen Inseln waren nie das Ziel der Wächter«, fährt sie fort. »Sie wollten zurück nach Europa. Sie haben die Winde gesucht, mit deren Hilfe sie nach Hause segeln konnten, doch sie sind hiergeblieben. Wollen Sie nicht wissen, warum?«
»Warum?«
»Aus Gier.«
»Ich verstehe nicht …«
»In gewisser Weise waren sie weiterhin Wächter. Nur dass sie ihre Loyalität etwas justiert haben. Sie haben weiter das gleiche Geheimnis bewacht – allerdings für einen neuen Auftraggeber.«
»Wen?«
»Zählen Sie doch mal zwei und zwei zusammen. Dann kommen Sie bestimmt selber darauf.«
»Mathematik war noch nie meine Stärke.«
»Ein Teil der Wächter blieb hier in Santo Domingo, in dem Palast, der mithilfe der berühmtesten Architekten und Ingenieure Europas errichtet wurde. Sie nahmen spanische Namen an. Die Wächter, die hier im Miércolespalast blieben, sind meine Ahnen. Ein Teil fuhr mit spanischen Handelsschiffen zurück nach Europa, wo jeder von ihnen einen Adelstitel erhielt sowie große Reichtümer und mehr Geld, als er sich jemals erträumt hatte. Die wenigen, die sich auflehnten, wurden umgebracht. Die Ehrlichsten unter ihnen fielen der Inquisition zum Opfer, auf direkten Befehl des Vatikans. Überlebt haben nur die Verräter. Und ihre Nachkommen leben heute in prunkvollen Schlössern in Italien, Frankreich und Spanien.«
»Wer stand dahinter?«
»In den ersten Jahren, nachdem die Wächter hierher nach Santo Domingo gekommen waren, war Papst Julius II. das kirchliche Oberhaupt in Rom. Der Nachwelt ist er wegen vielerlei Dinge bekannt. Er wird auch ›der Kriegerpapst‹ genannt. Er war eine intrigante Machtperson. 1506 gründete er die Schweizergarde, die noch heute den Papst und den Vatikan bewacht. Er initiierte den Bau des Petersdoms, wie wir ihn heute kennen. Er engagierte Michelangelo, um die Decke der Sixtinischen Kapelle zu bemalen. Michelangelo bekam auch den Auftrag für den monumentalen Grabstein des Papstes mit der berühmten Mosesstatue.«
»Ich verstehe den Zusammenhang noch immer nicht.«
»Der Zusammenhang ist der Vatikan.«
»Aber warum? Wir reden doch, mit allem Respekt, von einer Mumie. Und ein paar Papyrusdokumenten. Von der Beute eines Wikingerraubzuges.«
»Weder Asim noch die Wächter wussten wirklich Bescheid über die Bedeutung dessen, was sie schützten. Ganz zu schweigen von der religiösen Reichweite. Ohne es zu wissen bewachten sie eine Mumie und ein paar Dokumente, die das Verständnis von Judentum, Christentum und Islam auf den Kopf stellen würden, sollten sie einer Öffentlichkeit bekannt werden.«
Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Die Worte klingen so pompös, so unwirklich.
»Ich will nicht respektlos wirken, aber das Ganze scheint mir etwas die Proportionen zu verlieren.«
Sie spießt die Heidelbeere auf die Gabel und schiebt sie in den Mund.
Ich frage: »Was für ein Geheimnis könnte eine solche Tragweite haben? War die Mumie Gott?« Ich versuche zu lachen, es kommt aber nur ein trockenes Krächzen heraus.
Beatriz trinkt einen Schluck Wein und schließt die Augen. Das sanfte Licht glättet ihre Falten und lässt sie viel jünger erscheinen.
»Darf ich Sie etwas fragen, Bjørn?«
»Nur zu.«
»Dieses Manuskript …«
Sie hält inne, als wüsste sie nicht, wie sie es sagen sollte.
»Ja?«
»Was wissen Sie darüber?«
»Es handelt sich um eine Kopie und Übersetzung aus dem 11. Jahrhundert, aber das ursprüngliche Dokument ist älter, vermutlich ein Originalbibelmanuskript.«
»Haben Sie den Text gelesen?«
»Die Übersetzung ist noch nicht fertig.«
»Ich hoffe, Sie haben die Pergamente gut versteckt?«
»Natürlich. Sie sind in den besten Händen.«
»Haben Sie eine Kopie?«
Diese Frage hat mir Esteban nie gestellt.
»Natürlich.«
Ihr Mund bleibt offen stehen.
»Wollen Sie sie sehen?«, frage ich und reiche ihr die Hand.
In der Bibliothek schalte ich einen der Computer ein und logge mich in das Gmail-Konto ein, das Sira Magnus für mich eingerichtet hat. Im Posteingang wartet
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