Der Pakt der Wächter: Roman
mir verlangen.«
»Außerdem ist das Originalmanuskript leider nicht vollständig«, sagt der Konservator. »Die trockene Wüstenluft in Ägypten ist ideal für die Konservierung von Papyrus. Die raue norwegische und isländische Seeluft hingegen ist, um es vorsichtig auszudrücken, weniger günstig. Teile des Papyrus haben sich aufgelöst oder weisen Lücken auf. Vieles ist unleserlich. Um den Text endgültig entziffern und übersetzen zu können, brauchen wir die unbeschädigte Kopie aus Thingvellir.«
»Würde mir vielleicht endlich mal jemand mitteilen, was dieses Manuskript so einzigartig macht?«
»Es ist das Original eines Bibeltextes.«
»So viel habe ich auch schon mitbekommen. Aber was steht darin, warum hat der Vatikan solche Angst davor?«
Der Konservator steht auf und gießt unsere halb leeren Gläser wieder voll. Er drückt den Korken in die Flasche.
»Angst … Wenn es so einfach wäre. Vor tausend Jahren hatte der Vatikan ganz andere Rücksichten zu nehmen als heute. Ich weiß nicht, wie der Vatikan die Angelegenheit handhaben würde, würde das Manuskript heute publik gemacht. Aber vor tausend Jahren hatten sie schlicht und einfach nur Panik.«
»Warum?«
»Weil die Kirche über alle Jahrhunderte hinweg die Illusion verbreitet hat, bei der Bibel handele es sich um das Wort Gottes.«
In seinen Worten schwingt Trotz mit.
»Ist das nicht die eigentliche Mission der Kirche?«, frage ich.
»Genau deshalb würde es eine massive Schwächung der Autorität der Bibel und der Kirche bedeuten, sollte der Vatikan anerkennen müssen, dass die Bibel nur – ja, sagen wir – eine Sammlung erbaulicher Geschichten ist, geschrieben von Menschen, verändert von Menschen, gesammelt und zusammengestellt von Menschen. Und sonst nichts.«
»Aber das ist doch ein Allgemeinplatz, dass man die Bibel nicht wörtlich nehmen darf. Die Bibel steht für etwas Größeres. An die Bibel im buchstäblichen Sinne glaubt doch kaum noch jemand.«
»Ach wirklich? Fragen Sie mal die Homosexuellen. Oder die Frauen. Zweitausend Jahre lang ist uns die Deutung der Kirche eingehämmert worden. Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie viele Menschen die Bibel als Gottes Wort zu den Menschen lesen – als hätte Gott persönlich die Feder geführt. Für viele Gläubige ist die Bibel ein Quell der Erkenntnis, Anbetung und Kontemplation, inspiriert von Gott und vermittelt durch die Menschen. Aber die gleichen Kräfte, die seinerzeit die Grundlage boten für die Kreuzzüge, die Inquisition und die Sklaverei, stehen noch heute in voller Blüte.«
»Ich dachte, das hätte sich alles mit Luther geändert?«
»Wie man’s nimmt. Sehen Sie sich Paulus’ Worte über die Homosexualität an. Ein Apostel, der die Liebesbotschaft predigt, Vergebung und Mitgefühl, verdammt die Homosexualität und erntet dafür noch heute bei vielen Kirchenoberen Beifall.« Die Worte spritzen in einer Wolke aus Speicheltropfen von seinen Lippen. »Was hätte Jesus wohl zu dem Hass gesagt, der den Homosexuellen von einigen Christen entgegengebracht wird?«
»Ist ja gut«, sagt Beatriz, beugt sich vor und tätschelt ihm beruhigend den Oberschenkel.
»Paulus lebte in einer anderen Zeit«, sage ich.
»Genau! Was wieder einmal zeigt, dass die Bibel einer vergangenen Epoche angehört. Heute, ja heute , verdammt die Kirche die gleiche Sklaverei, die sie lange aus vollem Herzen unterstützt hat. Aber die Homosexuellen werden noch immer mit der gleichen Verbissenheit und unvermindert brennendem Hass verfolgt.«
Der Konservator atmet schwer nach diesem Ausbruch und stützt sich auf der Schreibtischplatte ab.
»Alles in Ordnung?«, fragt Beatriz.
»Ja, ja, ja!«
»Der Konservator engagiert sich immer gleich so«, sagt sie. »Aber ich bin seiner Meinung. Die Bibel ist literarisch und mythologisch ein Meisterwerk. Das seiner Zeit, seinem Volk und seiner Welt angehörte. Heute haben wir die Wahl, die Bibel als religiöse Botschaft oder als philosophisches Manifest zu lesen. Als Vermittler des Wortes Gottes fußt die Bibel einzig und allein auf dem Glauben der Leser. Die Autorität der Bibel hängt von der Kraft und Unbestreitbarkeit des Textes ab.«
Als Beatriz eine Pause macht und tief durchatmet, fällt ihr der Konservator ins Wort:
»Unsere Bibel wurde vor fünfzehnhundert Jahren von den Kirchenvätern für gut befunden. In all diesen Jahrhunderten standen Päpste und Geistliche, Priester und Prediger versammelt hinter der Unangreifbarkeit der Bibel. Die
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