Der Pakt der Wächter: Roman

Titel: Der Pakt der Wächter: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Egeland

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Mose


1

    Wir sind auf die Terrasse umgezogen. Beatriz hat Wein geholt, eine Stumpenkerze und eine Mückenspirale, unter der ich mehr leide als die Mücken. Der Konservator ist nach drinnen gegangen, um drei Gläser zu holen.
    »Weshalb ist er so zornig?« Ich mache eine Kopfbewegung in Richtung der Terrassentür, durch die der Konservator verschwunden ist.
    »Während des Krieges haben er und seine Eltern Schutz in einer Kirche in Warschau gesucht. Der Priester hat sie abgewiesen. Er weigerte sich, Juden Asyl zu geben. Ein Messdiener lief auf die Straße und informierte einige Polizisten. Der Vater wurde noch auf der Kirchentreppe erschossen und seine Mutter ins Konzentrationslager verfrachtet, wo sie starb. Nur dem Konservator gelang die Flucht. Er war damals zehn Jahre alt.«
    Der Konservator kommt mit den Gläsern. »Wie still ihr seid«, sagt er, als er die erste Weinflasche entkorkt und einschenkt. »Weil du das Reden für uns übernimmst, du alter Schwätzer«, entgegnet Beatriz und zündet die Kerze an. »Die Sache geht mir eben nah«, sagt der Konservator. Wir heben die Gläser.
    Der Konservator sinkt in den Gartensessel und verliert sich im roten Schimmer des Weines. »Ertragen Sie noch mehr von meiner belehrenden Doziererei?«, fragt er gemütlich.
    Ich lache leise. »Habe ich eine andere Wahl?«
    »Nein«, sagt Beatriz.

2

    Der Konservator hält das Glas eine Weile vor sich, bevor er es auf dem Tisch abstellt.
    »Die Bibel … Wir stellen uns die Bibel gern als etwas Einheitliches, Göttliches und Unveränderliches vor. Aber die Bibel ist das Ergebnis einer zielgerichteten redaktionellen und höchst menschlichen Arbeit. Und diese Arbeit wurde vom persönlichen Glauben der Bibelredakteure und ihrem politischen und theologischen Hintergrund beeinflusst. Es gibt keine Bibel, auf die sich alle Gläubigen einigen könnten. Juden, Christen, Orthodoxe, Katholiken, Protestanten – jeder hat seine eigene Version der Bibel. Um es kurz zu machen: Die Thingvellirrollen enthalten eine komplette hebräische Kopie und eine koptische Übersetzung einer Textsammlung aus dem Altertum. Nennen Sie es meinetwegen eine erste Skizze. Einen Rohtext. Eine Kladde. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden diese Schriften von verschiedenen Verfassern redigiert, bearbeitet und so angepasst, um in einer zusammenhängenden Geschichte vereint zu werden.«
    »Und aus dieser Geschichte«, sagt Beatriz, »bestehen die Bücher Mose.«
    Mir läuft ein Kribbeln über den Körper.
    »Die Thingvellirrollen«, fährt der Konservator fort, »umfassen die ursprünglichen Texte, auf denen die Moses-Bücher basieren.«
    »Diese Originaltexte verraten nicht nur, wie die fünf Bücher Mose entstanden sind, Kapitel für Kapitel, Seite für Seite«, sagt Beatriz, »sondern auch, was alles ausgelassen wurde.«
    »Wow«, sage ich. Ich hätte sicher etwas Passenderes sagen sollen, aber mir fällt nichts Besseres ein.
    »Das ist noch nicht alles …«, sagt Beatriz. »Der Text beinhaltet noch ein weiteres Moses-Buch.«
    »Noch eins? Wie soll ich das verstehen?«
    Sie sieht mich an.
    Der Konservator trinkt einen Schluck Wein. »Die Handschrift beinhaltet ein sechstes Buch Mose.«

3

    Ich brauche einen Augenblick, um meine Gedanken zu sammeln. Ein unbekanntes Moses-Buch? Die Behauptung hört sich wahnwitzig an. Gleichzeitig wäre das die Erklärung für alles. Für die Geheimniskrämerei. Für den Scheich und Hassan. Den Vatikan. Das SIS. All das Unerklärliche bekommt schlagartig einen Sinn.
    »Ich weiß, das ist schwer zu fassen«, sagt der Konservator.
    Irgendwo in der Stadt fällt ein Schuss. Aber vielleicht war es auch nur ein defekter Auspuff.
    »Uns standen bislang nur die unvollständigen Auszüge aus dem teilweise zerstörten Originaltext zur Verfügung, die sich hier im Palast befinden«, sagt Beatriz. »Darum sind die Thingvellirrollen so unendlich wichtig für uns. Weil sich in ihnen der ganze Text in seiner ursprünglichen Form findet, Wort für Wort.«
    »Laut unserer mangelhaften Auszüge«, sagt der Konservator, »werden im sechsten Buch Mose Kindheit und Jugend geschildert. Dort finden wir neue Lebensregeln, die sowohl Auswirkungen aufs Judentum, Christentum und den Islam hätten. Gott verrät mehr darüber, wer Er ist, wieso Er die Erde erschaffen hat und was Er von den Menschen erwartet. Er deutet an, dass es mehrere Götter gibt, aber dass Er der schöpfende Gott der Menschen und der Erde ist.«
    »Gott legt Visionen vor, wie