Der Pakt der Wächter: Roman
sie viel später von den Gnostikern und Katarern vertreten wurden«, sagt Beatriz. »Das sechste Buch Mose schwächt in nicht unerheblichem Maß die Kirche und die Stellung der Priesterschaft. Gott verurteilt alle, die Ihn eigenwillig falsch auslegen. Der wahre Glaube an Gott steckt in jedem Einzelnen. Den heiligsten Tempel , steht dort, findest du in deinem eigenen Herzen . Gott warnt Moses vor falschen Priestern, die die Kirche nur als Ausgangspunkt für ihre eigene Macht nutzen.«
»Das sechste Buch Mose widmet vier Kapitel dem Satan und drei weitere mehr oder weniger bekannten Erzengeln und Engeln. Gott nennt Satan seinen gefallenen Sohn und spricht mit väterlicher Liebe über ihn. Das, was wir unter dem Bösen verstehen, ist in erster Linie der Mangel des Göttlichen.«
Ich nippe an meinem Wein und versuche, den Faden nicht zu verlieren.
»Das sechste Buch Mose wird das Verständnis der übrigen Bücher Mose verändern«, sagt der Konservator. »Irgendein Schreiber hat – aus uns bislang unbekannten Gründen – dieses sechste Buch weggelassen. Es würde – so man es denn in den Kanon aufnähme – dazu führen, dass sich Teile der drei großen Weltreligionen an die neue Schrift anpassen müssten.«
»In welcher Weise?«
»Das wissen wir erst, wenn wir den kompletten Text lesen können. Schlüsse anhand der Übersetzungen, die uns zur Verfügung stehen, zu ziehen wäre reine Spekulation. Lassen Sie es mich an einem Beispiel erläutern«, der Konservator zieht ein Blatt Papier mit einem kurzen Text aus der Innentasche seiner Jacke, »wieso wir so sehr auf die Thingvellirrollen angewiesen sind …«
Wenn du zu deinem Herrgott betest, ist Er … [unleserlich] … so wirst du finden … [unleserlich] … ist eins, wie er ist … [unleserlich] … erschöpft. Du sollst … [unleserlich] … es bereits gefunden, und es ist … [unleserlich] …
»Das ist die Übersetzung des lesbaren Textes auf dem zerstörten Originalpapyrus, das sich hier im Miércolespalast befindet«, erklärte der Konservator. »Um die Leerstellen zu füllen, wo der Papyrus sich in Auflösung befindet, benötigen wir Asims Kopie. Der unvollständige Text ergibt fast keinen Sinn.«
4
Moses und die Israeliten wanderten vierzig Jahre durch die glühend heiße Wüste. Sie haben meine volle Sympathie. Meine persönliche Wüstenwanderung ist noch nicht zu Ende.
Der Konservator hat ein gebundenes, zerschlissenes Exemplar des Alten Testamentes geholt. Mit seinen langen Fingern blätterte er die hauchdünnen Seiten um.
»Wenn wir die Bücher Mose korrekt lesen, verstehen und deuten wollen«, sagt er, »müssen wir zuerst einmal akzeptieren, dass sie nicht von Moses geschrieben wurden.«
Er liest vor:
So starb Moses, der Knecht des HERRN , daselbst im Lande Moab nach dem Wort des HERRN . Und er begrub ihn im Tal, im Lande Moab gegenüber Bet-Peor. Und niemand hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag. Und Moses war hundertzwanzig Jahre alt, als er starb 8 .
»Also. Kann Moses das geschrieben haben?«, fragt der Konservator. »Wie kann er seinen eigenen Tod und seine Beerdigung vorhersagen?«
Er blättert weiter.
Aber Moses war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden.
Der Konservator lässt ein leises Lachen vernehmen. »Würde der demütigste Mann der Welt sich selber so beschreiben?«
»Das beweist noch gar nichts«, wende ich ein. »Selbst wenn Moses nicht alles geschrieben hat, was in den Büchern Mose steht, muss das noch lange nicht heißen, dass er nichts geschrieben hat.«
»Einige Leute sind der Meinung«, sagt Beatriz, »dass sozusagen ein Redakteur Mose Text ausgeschmückt hat. Aber die meisten Theologen und Priester unserer Zeit sind sich einig darüber, dass Moses die Moses-Bücher nicht selbst geschrieben hat.«
»Wenn Sie die Moses-Bücher lesen«, sagt der Konservator, »werden Sie verwirrt sein wegen der Wiederholungen und der vielen verschiedenen Namen für Gott und die Menschen und über die widersprüchlichen Versionen derselben Ereignisse.«
»Im ersten Buch Mose gibt es zwei Schöpfungsgeschichten«, sagt Beatriz.
»Zwei?«
»Zwei verwandte Geschichten, die zu einer zusammengefügt wurden«, sagt der Konservator und liest laut vor:
»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. 9
Das ist der Anfang der Schöpfungsgeschichte, wie wir sie kennen. Aber in den gleichen Text ist
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