Der Pakt der Wächter: Roman
noch eine widersprüchliche Schöpfungsgeschichte eingebaut – verfasst von einem anderen Schreiber und in die erste Version hineingewoben. Der Übergang ist so elegant, dass dem Leser gar nicht auffällt, dass die Geschichte noch einmal von vorne anfängt.«
»Wo?«
Der Konservator blättert eine Seite um und zeigt mit dem Finger auf die Stelle. »Sehen Sie selbst! Erstes Buch Mose, zweites Kapitel. Hier beginnt eine neue Schöpfungsgeschichte. Man muss weder Theologe noch Linguist sein, um zu erkennen, dass diese Worte eine selbstständige Geschichte einleiten.
So sind Himmel und Erde geworden, als sie geschaffen wurden.
Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. Und all die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.« 10
»Hören Sie, dass dies die Einleitung zu einer Schöpfungsgeschichte ist, die auf eigenen Beinen steht?«, fragt Beatriz.
»In der ersten Version«, sagt der Konservator, »schafft Gott den Himmel und die Erde, Licht und Dunkel, Meer und Land, die Pflanzen, Vögel, Fische, Meerestiere, Landtiere und am Schluss den Menschen, Mann und Frau. In dieser Reihenfolge.«
»Aber im nächsten Kapitel«, fährt Beatriz fort, »ist die Reihenfolge eine andere: Hier schafft Gott zuerst die Erde, den Himmel und das Wasser, dann den Mann, danach die Pflanzen, Tiere und Vögel und am Schluss die Frau, Eva.«
»Aber wie können beide Versionen richtig sein?«, fragt der Konservator.
»Damit könnten wir endlos fortfahren«, sagt Beatriz. »Lesen Sie die Geschichten von Noah. Die stimmen nicht überein! An einer Stelle beschreibt die Bibel, wie Moses zum Tabernakel geht – ehe er es gebaut hat. Die Moses-Bücher sind voller Widersprüche.«
»Ungenauigkeiten«, sagt der Konservator. »Fehler.«
Ich muss auf die Toilette.
5
Als ich zurückkomme, hat der Konservator die nächste Weinflasche geöffnet. Ein Nachtschwärmer fliegt ungeduldig und verbissen gegen eine der Außenlampen. Der Mond schimmert durch das Laub. Ein Windzug vom Meer streicht über den Park.
Ich setze mich und nehme einen Schluck Wein. Beatriz und der Konservator mustern mich, als wollten sie herausfinden, ob ich allmählich genug habe.
»Die Theologie steckt voller Geheimnisse , die offen zutage liegen«, sagt der Konservator. Er holt tief Luft, ehe er fortfährt. »Diese Schwachstellen in den Moses-Büchern sind den Theologen, Rabbis und Priestern zu allen Zeiten bekannt gewesen. Aber sie wurden lange Zeit schöngeredet, indem man sagte, hinter den Darstellungen läge eine höhere Wahrheit. Bereits im 17. Jahrhundert haben kritische Theologen öffentlich ausgesprochen, dass Moses unmöglich die Moses-Bücher geschrieben haben kann. Die Theologen wissen das seit Hunderten von Jahren. Egal, wo auf der Welt Sie einen Blick in eine kirchliche Fakultät werfen, werden Sie feststellen, dass das Teil des grundsätzlichen Verständnisses der Bibel ist. Moses hat die Moses-Bücher auf keinen Fall selbst geschrieben.«
Beatriz nippt an ihrem Wein und sieht mich an.
»All das führt uns zu folgender Quellenhypothese«, sagt der Konservator.
»Der JEPD-Theorie«, fügt Beatriz hinzu.
»Das bedeutet?«
»JEPD ist die neuere Urkundenhypothese, die davon ausgeht, dass die Moses-Bücher mindestens auf vier Hauptquellen basieren: J steht für Jahvist , E für Elohist , P für Priesterschrift und D für Deuteronomium «, erklärt Beatriz.
Ich erschlage eine Mücke, die sich auf meinem Unterarm niedergelassen hat.
»Die Moses-Bücher wurden etwa 900 v. Chr. begonnen, und bis etwa 400 v. Chr. wurden eine Reihe verschiedener Schriften zu den fünf Moses-Büchern zusammengefasst«, sagt sie.
»Die Autoren der Moses-Bücher erzählen die gleiche Grundgeschichte, aber aus unterschiedlichen Perspektiven.« Der Konservator verknotet seine Finger. »Sie bogen den Stoff nach ihren politischen oder religiösen Vorstellungen zurecht und versuchten, die jeweils vorangehende Version zu verbessern und zu korrigieren.«
»Ironischerweise wurden ausgerechnet diese unterschiedlichen und widersprüchlichen Darstellungen zusammengefasst«, sagt
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