Der Pakt der Wächter: Roman
Bibel zu kritisieren käme einer Leugnung Gottes gleich. Es sind Kriege ausgetragen worden, um das Wort der Bibel zu verteidigen und zu verbreiten. Millionen von Menschen wurden im Namen der Bibel getötet.«
Der Konservator muss husten, und es gelingt mir, eine Frage zu stellen: »In welcher Weise sollten die Thingvellirrollen das infrage stellen?«
Während der Konservator noch nach Atem ringt, beantwortet Beatriz meine Frage: »Die grundlegendsten Texte von allen – das theologische Fundament des Judentums, des Christentums und des Islams – sind die Bücher Mose. Die Schöpfungsgeschichte. Die Geschichte über die Patriarchen. Exodus. Kanaan. Kain und Abel. Die Gesetze, Regeln und die Zehn Gebote. All diese Geschichten und Texte bilden das Fundament unseres gemeinsamen Kulturerbes und unserer Weltgeschichte. Fünfzig Prozent der Weltbevölkerung gehören einem Glauben an, der auf diesen Worten basiert. Der allmächtige Gott, der in den Büchern Mose auftritt, ist noch immer der Gott, der von Christen, Juden und Muslimen angebetet wird.«
Der Konservator, der seinen Hustenanfall überwunden hat, leert sein Sherryglas. »Was, denken Sie, würde geschehen, wenn jemand dokumentieren kann, dass es sich hierbei um Fälschungen handelt?«
»Fälschungen?«, wiederhole ich wie ein Echo. »Wieso sollen das Fälschungen sein?«
»Wie würden Sie reagieren, wenn ich Ihnen sagte, bei den Büchern Mose handele es sich um die Summe zahlreicher Texte und Gedanken aus dem Altertum?«
»Das klingt nach dem, was man als Theologiestudent schon im ersten Semester lernt.«
»Interessant ist aber, wie dieses Wissen unter Verschluss gehalten wird. Die wenigsten Menschen wissen, dass die Bücher Mose – ja große Teile des Alten Testaments – ein Sammelsurium von babylonischen Mythen, phönizischen und hethitischen Sagen und ägyptischen Erzählungen sind, die einzig durch die Darstellung eines allmächtigen Gottes und die Schöpfung einer monotheistischen Religion zusammenhängen. Und durch einen neuen Staat. Viele würden das sicher einfach als einen weiteren Mythos abtun. Eine Konspirationstheorie. Andere – Wissenschaftler, kritische Theologen und Fachleute – würden anerkennen, dass das Alte Testament der Bibel eine einzigartige Sammlung älterer Texte in einem neuen Gewand und mit einem gemeinsamen Etikett ist.«
»Man kann das ganze Problem natürlich auch einfach leugnen, wenn man überzeugt genug davon ist, dass es sich bei der Bibel um das Wort Gottes handelt«, sagt Beatriz.
»Oder man sieht die Bibel als ein Buch über die menschlichen Träume und Sehnsüchte nach dem Überirdischen und Schönen an. Noch etwas Sherry?«
Ich reiche ihm mein Glas, das er bis zum Rand vollschenkt. Beatriz hat ihr Glas erst halb getrunken und möchte nichts mehr.
»Nun stellen Sie sich vor«, fährt der Konservator fort, während er die Flasche abstellt, »dass jemand unerschütterliche Beweise dafür vorbringen kann, wie die Bücher Mose entstanden sind und wie die neue Religion entstanden ist.«
»Was sollen das für Beweise sein?«
»Die Thingvellirrollen.«
Beatriz und der Konservator sehen mich fragend und herausfordernd an.
»Auf der Welt gibt es zwei Milliarden Christen. Die Hälfte davon sind Katholiken«, sagt der Konservator. »Anderthalb Milliarden Muslime. Vierzehn Millionen Juden. Für viele dieser gottesfürchtigen Menschen stellen die Bücher Mose das Fundament ihres Glaubens dar. Moses bereitete den Weg für Jesus und Mohammed.«
»Deshalb ist dieses Manuskript so wichtig«, sagt Beatriz. »Es erzählt eine andere Geschichte.«
»Der Papst kann nicht einfach vor die Menschheit treten und kundtun, die Schriften, um die sich die Kirchenväter geschart haben, seien unvollständig gewesen«, sagt der Konservator. »Oder dass die Bibel neu geschrieben werden müsse. Das ist undenkbar! Er könnte niemals eingestehen, dass die Bücher Mose Fehler beinhalten, die korrigiert werden müssen. Damit würde der Papst all seinen Vorgängern über zweitausend Jahre in den Rücken fallen. Und gleichzeitig würde er einräumen, dass die Bibel in ihrer literarischen Pracht nicht das Wort Gottes, sondern bloßes Menschenwerk ist.«
»Die Bibel«, sagt Beatriz, »wäre nur noch ein gut geschriebenes, nettes Abenteuerbuch, voller Visionen kluger Menschen über einen Gott und ein Paradies, von dem wir alle träumen können.«
»Das aber nichts als Blendwerk ist«, ergänzt der Konservator.
Das sechste Buch
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