Der Pakt der Wächter: Roman
Dunkel gewöhnt haben, sehe ich nichts. Gar nichts.
Die Hände nach vorn gestreckt, hinke ich die wenigen Schritte bis zur Wand. Auch sie besteht aus massiven Steinblöcken. Ich fahre mir mit den Fingern durch die Haare. Ich habe eine Beule am Kopf.
Als sich mein Atem beruhigt hat, höre ich neben meinem eigenen Keuchen noch ein anderes Geräusch. Ich halte die Luft an und lausche.
Jemand atmet.
Ich bin nicht allein in der Zelle.
2
Panische Angst flackert auf. Vollkommen erstarrt presse ich mich an die Wand und lausche dem leisen, rasselnden Atem eines anderen Wesens.
Ein Mensch? Ein Tier? Ein golumartiges Geschöpf, das seit vierhundert Jahren hier im Dunkel haust und nun endlich seinen Hunger stillen kann?
Meine Kehle schnürt sich zusammen. Ich beginne zu keuchen, hart und stoßweise. Hände und Knie zittern.
»Ich bin’s, Bjørn.«
Mein Herz hält inne.
Dann erkenne ich die Stimme.
Der Konservator.
Noch ein paar Sekunden bleibt mein Körper vor Angst wie gelähmt, dann leert sich meine Lunge mit eruptiver Kraft.
Den Rücken an der Wand sinke ich zu Boden.
»Diese Zellen haben Sklaven, Seeräubern, Meuterern und politischen Aufwieglern Logis geboten. Wir sind im zweiten Keller. Früher saßen in diesen Zellen fünfzig bis sechzig Gefangene. Einige haben hier Jahre verbracht, bis sie gestorben sind. Heute werden diese Räume als Kühlkeller oder Lager genutzt.«
Ich kann ihn nicht sehen. Dem Klang seiner Stimme entnehme ich aber, dass er drei oder vier Meter von mir entfernt sitzt.
»Tut mir leid, dass ich Sie in diesen Mist mit reingezogen habe«, sage ich.
»Das ist doch nicht Ihre Schuld.«
»Ich dachte, Beatriz wäre auf unserer Seite.«
»Natürlich ist sie das.«
»Sie – es war Beatriz, die mit den Wachleuten aufgetaucht ist, um mich zu holen. Im Mausoleum.«
»Dafür gibt es sicher eine natürliche Erklärung.«
»Sie verstehen nicht.«
»Ich verstehe sehr wohl!«
»Und Esteban … Er kann uns doch nicht einfach so … behandeln.«
»König Esteban behandelt jeden, wie es ihm beliebt.«
»Kein normaler Mensch führt sich so auf.«
»Normal? Esteban? Er ist besessen.«
»Ich wollte Ihnen mit meinem Herumschnüffeln nicht schaden.«
»Nein, nein, das ist meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, dass wir über die Überwachungskameras beobachtet werden. Auch mitten in der Nacht.«
»Ich verstehe nicht … Sie …Sie sind doch sein Mitarbeiter.«
»Ich war bis jetzt immer nur sein nützlicher Idiot. Das Manuskript ist jetzt aber eine Sache zwischen Ihnen und ihm. Da bin ich entbehrlich.«
»Aber warum hat er« – ich suche nach den richtigen Worten – »Sie unter Hausarrest gestellt?«
»Weil er mir nicht vertraut und mich endlich auf frischer Tat ertappt hat. Er hat mich schon seit Jahren auf dem Kieker. Beatriz hat mich geschützt. Jetzt hat er endlich etwas gegen mich in der Hand. Ich glaube nicht, dass in Bårds Geschichte etwas Gefährliches steht. Meine fehlende Loyalität hat ihn zu dieser Reaktion bewogen. Dass ich Ihnen hinter seinem Rücken eines der Dokumente der Heiligen Bibliothek gezeigt habe.«
»Warum hat er Sie auf dem Kieker?«
»Ich habe ihn von Anfang an herausgefordert. Er hat mich noch nie gemocht. Außerdem ist er eifersüchtig.«
»Auf Sie?«
Wieder höre ich seinen Atem im Dunkel.
»Weil Beatriz mich lieber hat als ihn.«
»Ja? Er ist ihr Bruder. Sie sind ihr Freund. Das kann man doch nicht vergleichen.«
»Esteban«, sagt er leise, »hatte immer schon mehr als nur brüderliches Interesse an Beatriz.«
Das Dunkel zwischen uns schwillt an.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie wissen doch, wie besessen die ägyptischen Pharaonen waren, die göttliche Blutlinie der Familie rein zu halten: so besessen, dass sie ihre eigenen Schwestern ehelichten. Sogar Kleopatra war mit ihrem viel jüngeren Bruder verheiratet. Es gibt auch die Theorie, dass Pharao Echnathon und seine Mutter, Königin Tiye, ein Verhältnis miteinander hatten. Das soll der Ursprung des Ödipusmythos sein.«
»Wollen Sie damit andeuten, Esteban und Beatriz hätten ein inzestuöses Verhältnis gehabt?«
»Ich habe nie zu fragen gewagt.«
»Esteban ist doch kein Pharao.«
»Aber ebenso größenwahnsinnig. Ebenso verrückt. In den Sechzigern, noch bevor sie in die USA gegangen ist, hat mir Beatriz anvertraut, dass sich Esteban an ihr vergriffen hat.«
»Was sagen Sie da?«
»Damals war sie schwer selbstmordgefährdet. Ich hatte gerade einen Selbstmordversuch
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