Der Pakt der Wächter: Roman
Kleidern.
2
Sie erwarten mich hinter einem Rokokotischchen aus frisch poliertem Mahagoni. Esteban trägt einen exklusiven Anzug, Beatriz ein hübsches, körperbetontes Sommerkleid.
» Buenos días «, sagt Esteban. »Gut geschlafen?«
Ich antworte nicht.
Beatriz starrt mich mit leerem Blick an. »Es würde die Sache enorm vereinfachen, wenn Sie uns erzählten, wo Sie die Thingvellirrollen versteckt haben.« Ihre Stimme ist kühl.
Ich bin ein Meister im Schweigen.
»Ist sie nicht süß?« Estebans Zungenspitze kommt zum Vorschein. Er lächelt schelmisch und streichelt ihr über den nackten Arm. »Ein Leckerbissen, nicht wahr? Der Beweis dafür, dass Gott die Frau schuf! Sie hätten sie sehen sollen, als sie jünger war! Oh là là.«
Beatriz verzieht keine Miene.
»Wir haben eine Frage«, sagt Esteban.
»Und wenn ich die beantworte?«
»Hören wir auf, Sie zu quälen.«
»Werden Sie mich gehen lassen?«
»Selbstverständlich.«
»Den Konservator auch?«
»Natürlich.«
»Und wenn ich nicht antworte?«
»Sie werden antworten! Weil Sie nicht dumm sind. Aber wir lassen Ihnen Zeit, zur Vernunft zu kommen«, sagt Beatriz.
»Zeit?«
»Zum Nachdenken. Im Keller. Beim Konservator.«
»Was soll ich Ihrer Meinung nach tun, Beatriz?«
»Ich meine, dass Sie tun sollten, was Esteban von Ihnen verlangt.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
Der Kronprinz
1
Nach dem Verhör werde ich zurück in die Zelle gebracht. Man hat mir zwei Brötchen mitgegeben, zwei Äpfel und zwei Flaschen Wasser.
Der Gestank schlägt mir wie eine Keule entgegen.
Die Sicherheitswachen schubsen mich in die Zelle und überlassen mich der Dunkelheit und den Geschichtslektionen des Konservators.
»Wie ist es gelaufen?«
»Beatriz war am Verhör beteiligt.«
»Na ja …«
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja?«
»Sie gehört dazu.«
»Wozu?«
»Zu Estebans Operation.«
»Beatriz? Niemals.«
»Ich kann es auch nicht fassen.«
In absoluter Dunkelheit essen wir die Brötchen und die Äpfel. Das Wasser sparen wir.
In der Stille lauschen wir den Atemzügen des anderen.
2
»Also, wer war er?«, frage ich.
Ich höre, dass der Konservator versucht, sich in eine bequemere Position zu bringen. Er räuspert sich.
»Der Moses aus der Bibel hat nie gelebt.«
»Trotzdem wissen Sie, wer er war?« Ich schnaufe.
»Der Prinz, den wir als Moses kennen, war ein Ägypter königlicher Herkunft. Er war kein Sohn von Sklaven. Der spätere Bibelbearbeiter hat ihn an sein israelitisches Projekt angepasst. Wie so vieles andere in der Bibel wurde die Geschichte ausgeschmückt und farbig ausgemalt.«
»Aus welchem Grund?«
»Eine Nation sollte aufgebaut, ein Volk geeint, eine Religion erschaffen werden. Sie brauchten einen Propheten und eine fantastische Geschichte, die das Volk zugleich begeisterte und einschüchterte.
»Und darum hat man Moses erfunden?«
»Ein genialer Schachzug. Die literarische Figur Mose konnte mithilfe von wirklichen und erdichteten Personen, Mythen und tatsächlichen Ereignissen ausgebaut werden.«
»In welcher Weise?«
»Mose Herkunft – der Sklavensohn, der zum Prinzen wurde – ist ein gutes Beispiel. Wir kennen alle die Episode aus dem zweiten Moses-Buch 12 , in der die Tochter des Pharaos den Säugling Moses in einem Schilfkörbchen auf dem Nil treibend findet. Das Problem ist nur, dass eine ägyptische Königstochter niemals die Erlaubnis bekommen hätte, einen Sohn zu adoptieren, wie es die Bibel erzählt. Blutsbande, die Reinheit des Blutes, waren – wie bereits erwähnt – in ägyptischen Königsfamilien heilig. Dass die halb göttliche Tochter eines Pharaos den Sohn von hebräischen Sklaven adoptiert haben soll, ist undenkbar.«
»Wie ist diese Geschichte dann entstanden?«
»Die Erzählung von dem adoptierten Sohn hat ihren Ursprung teils in einer Parallelgeschichte aus der babylonischen Mythologie, teils in der ägyptischen Geschichte. Viele Pharaonen holten Prinzessinnen aus anderen Königreichen an ihre Höfe, um politische Allianzen einzugehen. Manche bekamen eigene Paläste und den Ehrentitel tet-sa-pro . Wissen Sie, was tet-sa-pro bedeutet?«
Ich schüttele den Kopf.
» Tet-sa-pro , Bjørn, bedeutet Pharaos Tochter . Diese armen Frauen lebten in Abgeschiedenheit und im Zölibat und durften keine eigenen Kinder bekommen. Ein tristes Dasein. Wer sich einen Geliebten nahm, wurde hingerichtet. Aus historischen Quellen ist uns eine solche Frau bekannt: die syrische
Weitere Kostenlose Bücher