Der Pakt der Wächter: Roman
zu den Sternen. Etwas quälte ihn. Eine Ahnung. Der Nordwind jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Über eine Stunde hatte er in dem warmen Wasser der Badequelle draußen vor dem Hof gesessen, ehe er sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte. Über dem Hausdach sah er das Mondlicht im Dampf des Badetümpels glitzern; der funkelnde Widerschein erinnerte schwach an das Nordlicht. Er fuhr sich mit den Fingern über den grauen Bart und trat mit dem Stiefel gegen ein welkes Grasbüschel. Er verabscheute diese Frostattacken der Seele, diese Qualen. Es gab noch so viel zu tun. Sein Alter belastete ihn nicht, ganz und gar nicht: Er war noch immer hellwach und beweglich. Eine Sternschnuppe jagte über den Himmel. Ein Omen?, dachte er. Er atmete tief ein und behielt die Frostluft in der Lunge. Irgendwo auf dem Hof bellte ein Hund. Im Stall schnaubte ein Pferd.
Dann hüllte sich die Welt wieder in Schweigen.
»Ja, ja«, murmelte er vor sich hin. »Ja, ja, ja.«
Er ging hinein und stieg die Treppe, deren siebte Stufe knirschte, nach oben. In seinem Schlafzimmer ließ er sich schwer aufs Bett fallen, auf die Felle, die das Dienstmädchen ausgeschüttelt und zusammengefaltet hatte. Dann schlief er ein, in seinen Kleidern, den Kopf an die groben Balken der Giebelwand gestützt.
Wiehernde Pferde.
Lautes Rufen.
Eine hölzerne Tür, die knackend und splitternd nachgibt.
Jemand brüllt einen Namen. Seinen Namen.
Die Geräusche schlichen sich in seinen Traum. Seine Augenlider zuckten, dann plötzlich war er hellwach. Er sprang auf und musste sich am Bettpfosten festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Von draußen hörte er Lärm und Gebell. Er sah durch eine Fensterscharte nach draußen. Auf dem Hofplatz wimmelte es von bewaffneten Männern. Unter ihnen, im Schein der Fackeln, erkannte er Gissur. Sein Gesicht erstarrte. Gissur! In seinem Leichtsinn hatte er in die Vermählung seiner Tochter Ingibjørg mit diesem Köter eingewilligt. War es diese Ahnung, die ihn so gequält hatte? Er und Gissur waren erbitterte Feinde. Aber das hier? Doch, was sollte man von einem üblen Schurken, der nach der Pfeife des norwegischen Königs tanzte, schon erwarten.
Sein Herz hämmerte, aber er wollte sich die Furcht nicht anmerken lassen.
Der Tod kann nicht in einer solchen Nacht kommen, dachte er, nicht in einer derart friedlichen, sternenklaren Herbstnacht.
Er öffnete die Truhe vor der Wand und grub sich mit den Händen durch die Kleider nach unten, bis er den Mechanismus fand, mit dem sich das geheime Fach öffnen ließ. Das Schloss sprang auf. Seine Hände legten sich um die zusammengerollten Pergamente. Um keinen Preis durften sie in Gissurs Hände fallen oder in die des norwegischen Königs! Er schob sich die Pergamentrollen unter das Wams, bevor er über die schmale Treppe nach unten in den engen Durchschlupf schlich. Im Schutz der Dunkelheit lief er an den Hauswänden entlang zu Priester Arnbjørn.
Der Geistliche saß auf seinem Bett. Er hatte die Felle bis zum Kinn hochgezogen und seufzte erleichtert, als er den Häuptling erkannte.
»Wer …?«
»Gissur und seine Leute!«
»Gissur!« Der Priester bekreuzigte sich und stand taumelnd auf. »Du musst dich verstecken! Ich weiß, wo! Im Kellergang, da in der kleinen Kammer …«
»Erst musst du mir versprechen, mir zu helfen!«
Seine Stimme war seltsam ruhig. Bittend. Unerschrocken. Er zog die Pergamentrollen hervor. »Arnbjørn, höre meine Worte.«
Arnbjørns Mund stand offen. In seinem Atem hallten die Schläge seines Herzens wider. »Ich höre.«
Er reichte ihm die Pergamente. Eine Weile hielten sie sie beide gemeinsam fest.
»Arnbjørn, wenn ich bei Sonnenaufgang nicht mehr lebe, hast du einen Auftrag. Den wichtigsten deines Lebens.«
Der Priester nickte stumm.
»Du musst diese Pergamente in aller Heimlichkeit zu Thordur kakali bringen.« Er bohrte seinen Blick in den des Geistlichen. »Und kein Wort zu niemandem darüber! Hörst du, niemals. Zu niemandem.«
»Was soll ich Thordur sagen?«
»Er wird verstehen.«
Thordur war der zweite Wächter in Island. Gab es jemanden auf dieser Erde, dem er wirklich vertraute, dann dem Sohn seines Bruders, Thordur kakali.
Erst jetzt ließ er die Rolle los. »Schütze sie mit deinem Leben! Selbst wenn sie drohen, dir die Augen auszustechen« – der Priester riss erschrocken den Mund auf und trat einen Schritt zurück -, »darfst du ihnen die Pergamente niemals anvertrauen oder verraten, dass du sie
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