Der Palast
Ihr mich nicht als Verräter brandmarkt?«
»Vorerst reicht es«, erwiderte Sano, obwohl der Hinweis dürftig war.
»Was geschieht mit mir?«
»Ich lasse Euch noch eine Weile am Leben. Es könnte ja sein, dass Euch noch etwas zu dem geheimnisvollen Mann einfällt.« Sano wandte sich an seine Ermittler: »Bringt ihn ins Gefängnis von Edo. Okada -san, du bewachst ihn, damit ihm nichts zustößt. Watanabe -san , unterrichte den Magistraten Ueda, dass ich ihn bitte, den Prozess gegen Höchste Weisheit aufzuschieben, weil er ein Zeuge im Entführungsfall ist. Ich reite zurück zum Palast. Es wird höchste Zeit für mein Treffen mit Kammerherrn Yanagisawa.«
»Ich bin sicher, dass die Ermordung Anemones der Mord ist, auf den sich der Erpressungsbrief bezieht. Und bestimmt ist dieser Mord das Motiv für die Entführung«, sagte Sano.
»Und jetzt sollen wir Eure Theorie verfolgen, dass der mysteriöse Anhänger der Schwarzen Lotosblüte der Drachenkönig ist?«, fragte Kammerherr Yanagisawa.
»Ja.«
Es war schon nach Mitternacht, als Sano von Ginza zum Palast von Edo geritten war. Jetzt saß er mit Yanagisawa in der Villa des Kammerherrn in dessen Schreibstube, an deren Wänden Karten von Japan hingen. Soeben hatte Sano seinen Bericht über Mariko, die Goldmünzen, seinen Besuch bei Marikos Mutter und den Sturm auf den Tempel der Schwarzen Lotosblüte beendet. Vor dem geöffneten Fenster zirpten Zikaden, und von den Fackeln der Wachpatrouillen stieg Rauch in die Dunkelheit. Sano musste daran denken, dass Krisensituationen zu seltsamen Bündnissen führten. Er und Yanagisawa waren Partner geworden, was er nie für möglich gehalten hätte.
»Wenn ich mich recht entsinne, stand auf unserer Liste der Todesfälle, die eine Verbindung zu Polizeikommandeur Hoshina aufweisen, keine Frau namens Anemone«, sagte Yanagisawa.
Der Kammerherr war so tadellos gekleidet und gepflegt wie immer, doch seine blutunterlaufenen Augen lagen tief in den Höhlen und kündeten von seiner Erschöpfung. Mit seinen langen Fingern trommelte er unruhig auf das Schreibpult. Yanagisawa wirkte besorgter als am Morgen, als Sano ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Sano vermutete, dass den Kammerherrn etwas noch Schlimmeres quälte als die Geschichte mit Hoshina. Doch Yanagisawa lieferte freiwillig keine Erklärung, und die Höflichkeit untersagte es Sano, ihm Fragen zu stellen.
»Ihr habt Recht. Anemone stand nicht auf der Liste«, pflichtete Sano ihm bei.
»Dann hat Hoshina die Frau seinen eigenen Angaben zufolge nicht getötet«, sagte Yanagisawa. »Warum sollte der Entführer ihm die Schuld an ihrem Tod in die Schuhe schieben und wünschen, dass er dafür hingerichtet wird?«
»Diese Frage stelle ich mir auch«, gestand Sano, dem soeben eine andere Idee durch den Kopf ging. »Es ist möglich, dass der Drachenkönig Hoshina die Schuld am Tod eines Menschen gibt, obwohl Hoshina nichts damit zu tun hat.« Ein wenig verärgert musste Sano sich eingestehen, dass seine Abneigung gegen den Polizeikommandeur ihn dazu veranlasst hatte, die Beschuldigung des Widersachers mit Hoshinas Schuld gleichzusetzen. »Vielleicht hat der Drachenkönig Fürstin Keisho-in entführt, um die Hinrichtung der falschen Person zu erzwingen.«
»In dem Fall wäre die Liste nutzlos«, sagte Yanagisawa, »und wir haben Verdächtige an den falschen Orten gejagt.«
Der Gedanke, dass sie einen Tag vergeudet hatten und die Frauen noch immer vermisst wurden, belastete die angespannte Atmosphäre in dem heißen Gemach. »Zumindest haben wir nun einen Verdächtigen, der tatsächlich als Täter infrage kommen könnte«, sagte Sano.
Yanagisawa stieß ein freudloses Lachen aus. »Einen Verdächtigen ohne Namen und mit einem unbekannten Aufenthaltsort. Woher wollt Ihr wissen, dass der Priester der Schwarzen Lotosblüte ihn nicht erfunden hat, um seine eigene Haut zu retten? Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Zeit mit sinnlosen Verfolgungsjagden zu verschwenden.«
»Haben wir eine andere Wahl, als der Identität dieses Mannes auf den Grund zu gehen?«, fragte Sano, obwohl er Yanagisawas Skepsis teilte. »Mir gehen allmählich die Ideen aus. Meine Männer haben den Mann gesucht, der den Erpressungsbrief hinterlegt hat, aber sie hatten kein Glück. Ich habe heute mit dem Händler Naraya gesprochen, und ich glaube nicht, dass er die Frauen entführt hat.« Sano berichtete über Narayas Verhör. »Darf ich fragen, ob Ihr die Angehörigen des Kii-Klans befragt habt? Kommen
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