Der Palast
los?«
»Midoris Fruchtblase ist geplatzt«, erwiderte Reiko. »Ihre Wehen haben eingesetzt.«
Die Straßen des Verwaltungsviertels Hibiya waren menschenleer. Nur in den Wachhäusern vor den befestigten Anwesen dösten Posten. Laternen, die über den Toren hingen, warfen da und dort trübes Licht in die Dunkelheit. Vor dem Haus, das Toda Ikkyu gehörte, stieg Sano aus dem Sattel. Eine besonders hohe Mauer trennte das Anwesen von denen der Nachbarn, die sicherlich nicht wussten, dass Toda als Agent für den metsuke arbeitete – den Tokugawa-Geheimdienst, der die Macht des Shōgun über Japan sichern sollte. Sano wusste, dass Toda ein unauffälliger Mann war und deshalb wie geschaffen dafür, seine Kollegen im bakufu zu bespitzeln.
»Sag deinem Herrn, dass der sōsakan-sama des Shōgun ihn sofort zu sprechen wünscht«, befahl Sano dem Wachposten.
Ungeachtet der Tatsache, dass Sano vor Anbruch der Morgendämmerung um ein Gespräch bat, führten sein Titel und sein herrisches Auftreten rasch zum Erfolg. Ein Gefolgsmann des Agenten begleitete ihn in einen Empfangssaal, dessen Wände mit dezenten, herkömmlichen Landschaftsmalereien verziert waren, was den Charakter des Hausbesitzers eher verschleierte als enthüllte. Bald darauf erschien ein Mann mit nackten Füßen und schläfrigem Blick, der in einen grauen Hausmantel gehüllt war. »Guten Abend, sōsakan-sama «, sagte er. »Oder sollte ich guten Morgen sagen?«
»Guten Morgen, Toda -san .« Sie verneigten sich. Sano beäugte seinen Gastgeber aufmerksam, um sich zu vergewissern, dass es wirklich Toda war. Der Agent war schwer zu beschreiben; Sano hatte jedes Mal Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen. Toda hatte ein Allerweltsgesicht, was in seinem Beruf, in dem Unauffälligkeit oberstes Gebot war, einen großen Vorteil darstellte. Seine Stimme und seine Haltung, die Weltverdrossenheit demonstrierten, stimmten jedoch mit Sanos verschwommener Erinnerung an Toda überein.
»Ich nehme an, es handelt sich nicht um einen reinen Freundschaftsbesuch«, sagte Toda. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten«, sagte Sano.
Toda grinste. »Warum überrascht mich das nicht?«
Sano hatte Toda in der Vergangenheit schon häufig während seiner Ermittlungen um Hilfe gebeten, weil der Agent Zugang zu vielen Informationen über Bürger hatte, die von unzähligen Agenten und Informanten im ganzen Land zusammengetragen wurden.
»Was wünscht Ihr diesmal von mir?«, fragte Toda. Er gab nicht gerne Informationen preis. Der metsuke hortete eifersüchtig seine Erkenntnisse – die Grundlage seiner einzigartigen Macht.
»Ich brauche Eure Hilfe, um einen Mann zu identifizieren, der möglicherweise der Entführer von Fürstin Keisho-in sein könnte«, erklärte Sano.
Toda wusste sofort, dass er in diesem Fall zur Mitarbeit gezwungen war. Wenn Fürstin Keisho-in nicht gerettet und der Entführer nicht seiner gerechten Strafe überführt wurde, wäre es möglich, dass der Shōgun den gesamten bakufu, einschließlich der metsuke -Agenten, bestrafte, die dafür verantwortlich waren, Bedrohungen des Tokugawa-Klans aufzudecken und abzuwehren.
»Was ist los? Habt Ihr Eure Theorie verworfen, dass der Drachenkönig ein alter Feind von Polizeikommandeur Hoshina sein könnte?« Toda konnte einer gewitzten Bemerkung niemals widerstehen. »Haben der Kii-Klan und der Händler Naraya sich als unschuldig erwiesen?«
Sano überraschte es nicht, dass Toda über diese Theorie und die Verdächtigen im Bilde war. Vermutlich arbeiteten einige der Männer, die Hoshina bewachten, als Spione für Toda und hatten das Gespräch mit Sano heute Morgen belauscht. »Ich habe einen neuen Verdächtigen«, sagte Sano, »aber leider kenne ich seinen Namen nicht.«
Er berichtete, was sich im Tempel der Schwarzen Lotosblüte zugetragen hatte. »Der einzige Hinweis, den ich zur Identität des Mannes besitze, ist die tote Frau, derer er sich bedient hat, um sich mit dem Priester der Schwarzen Lotosblüte zu verständigen. Die Frau heißt Anemone. Ich vermute, ein Angehöriger ihrer Familie oder ihres Gefolges könnte der Drachenkönig sein. Ich hoffe, Ihr könnt mir sagen, wer sie ist.«
Toda dachte nach und durchforstete das umfangreiche Informationsarsenal in seinem Kopf nach einer Antwort. Dann sagte er: »Ich erinnere mich nicht an den Mord an einer Frau dieses Namens. Es ist ein Jammer, dass Ihr den Familiennamen nicht kennt. Wann wurde sie getötet? Wie ist sie
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