Der Palast
gestorben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Könnt Ihr mir wenigstens sagen, wo sie ermordet wurde?«
Sano schüttelte den Kopf. Er begriff, dass er angesichts der dürftigen Hintergrundinformationen über das Verbrechen vielleicht sogar von Toda zu viel verlangte.
»Wie Ihr wisst, hat es im Laufe der Jahre tausende von Mordfällen im ganzen Land gegeben«, sagte Toda. »Wo soll ich mit der Suche beginnen, wenn ich nur ihren Vornamen kenne?«
»Es müsste eine Verbindung zwischen Anemone und Hoshina geben«, sagte Sano, »auch wenn er sie nicht getötet hat.«
»Das würde die Zeitspanne auf die letzten zwanzig Jahre begrenzen, wenn wir davon ausgehen, dass der Mord sich nicht ereignet hat, als Hoshina noch ein Kind war«, überlegte Toda. »Der Mord müsste in Edo oder Miyako verübt worden sein, den beiden Orten, an denen Hoshina gelebt hat.«
»Der Drachenkönig kann Mariko nur als Spionin in Fürstin Keisho-ins Gefolge eingeschleust haben, wenn er enge Verbindungen zu den Tokugawa unterhält«, sagte Sano. »Es muss jemand aus dem bakufu und Mitglied eines hochrangigen Samurai-Klans sein. Es kann nicht viele Morde an Frauen namens Anemone geben, in die ein Mann verstrickt ist, auf den dies alles zutrifft.«
»Stimmt«, pflichtete Toda ihm bei. Seine mürrische Miene hellte sich auf, als er erkannte, dass die Gefälligkeit, die er Sano erweisen sollte, ihn letztendlich doch nicht vor allzu große Probleme stellten dürfte. »Und Verbrechen, in die ein solcher Mann verwickelt ist, müssten in den Berichten im Hauptquartier des metsuke verzeichnet sein. Ich kleide mich kurz an, und dann brechen wir auf.«
Es dauerte nicht lange, bis sie in einem abgeteilten Raum des Palasts saßen, in dem das Hauptquartier des metsuke untergebracht war. Eine einzige Lampe brannte in dem Raum, in dem Sano und Toda sich über Bücher beugten, die über Fälle berichteten, in denen Tokugawa-Anhänger mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Auf den Gängen des Palasts war es ruhig, und die anderen Gemächer waren leer. Mit Schriftrollen, Karten und Schreibutensilien übersäte Schreibpulte warteten auf metsuke -Agenten, die noch zu Hause in ihren Betten lagen, während Sano und Toda die Berichte aus jenen drei Jahren durchsahen, die Hoshina in der Stadt verbracht hatte. Sano blätterte Seiten um, auf denen von Personen berichtet wurde, die bei Zweikämpfen oder von eifersüchtigen, geschiedenen Frauen getötet worden waren, oder die wegen Streitigkeiten um Geld und Besitz ihr Leben gelassen hatten, doch sie fanden keinen Hinweis auf den Mord an Anemone.
Als Sano und Toda sich den Berichten aus Miyako zuwandten, fiel das erste Tageslicht durch die Fenster. Die Tempelglocken in der Stadt läuteten und riefen die Priester zu den Morgengebeten. Der Raum füllte sich mit Männern, leisen Gesprächen und Tabakrauch. Sanos Augen brannten vor Erschöpfung, als er ein anderes Buch durchsah und sich nur mit Mühe wach hielt. Die Frist bis zur Mittagszeit, die Kammerherr Yanagisawa ihm eingeräumt hatte, rückte bedrohlich näher, als Sanos Blick schließlich auf die Schriftzeichen jenes Namens fiel, den er gesucht hatte.
»Ich hab’s!«, rief Sano Toda zu, der sein eigenes Buch erleichtert zur Seite schob. Sano las den Eintrag vor: »Tenwa-Ära, zweites Jahr, dritter Monat, vierter Tag.« Sano schaute Toda an. »Also vor zwölf Jahren«, sagte er, wandte den Blick wieder auf die Unterlagen und las weiter vor: »Dannoshin Jirozaemon, Befehlshaber der Bürgerwehr, starb durch Selbstmord. Seine Gemahlin Anemone starb durch Ertrinken. Der Leichnam Dannoshins wurde in seinem Ausflugsboot gefunden, das über den Biwa-See trieb. Seine Kehle war durchgeschnitten; er hielt sein Kurzschwert in der Hand. In seinem Haus hatte er eine Nachricht hinterlassen, mit der er seine Tat zu erklären versuchte: Seine Gemahlin und ein Mann, der Geliebte von Dannoshin, hatten eine heimliche Affäre begonnen. Als Dannoshin ihnen auf die Schliche kam, beschloss er, seine Frau zu bestrafen, indem er sie im See ertränkte, und sich dann selbst zu töten, weil er für ihren Tod büßen musste und es nicht ertragen konnte, dass die beiden Menschen, die er am meisten liebte, ihn gemeinsam betrogen hatten. Der Leichnam von Anemone wurde niemals gefunden.«
Sano schlug mit der Faust auf das Buch – der Erfolg belebte ihn. »Das muss der Mord sein, der hinter der Entführung steht! Anemone ist die ertrunkene Frau, von der in dem Gedicht im Erpressungsbrief die Rede
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