Der Palast
Lotosblüte vor zwei Jahren beigetreten«, sagte Sano. Als Yuka ihm von Marikos verändertem Wesen und deren geheimnisvollen Ausflügen erzählt hatte, hatte Sano darin das typische Verhalten eines jungen Menschen erkannt, der in die Sekte gelockt worden war. »Sie wurde mit Euch zusammen gesehen.«
»Zu mir kommen viele Menschen«, prahlte Höchste Weisheit. »Es sind so viele, dass ich sie unmöglich alle kennen kann.«
»Sie hielt sich während des Überfalls auf den Pilgerzug im Tempel der Schwarzen Lotosblüte auf«, sagte Sano. Das erklärte, warum Mariko in jener Nacht verwundet, blutverschmiert und völlig aufgelöst nach Hause zurückgekehrt war. »Sie gehörte zu den wenigen Überlebenden, die entkamen. Und sie war Eure Geliebte. Ihr habt sie geschwängert.«
»Unsere Rituale verlangen von mir, so viele Frauen zu haben, dass ich mich nicht an jede einzelne erinnern kann«, erwiderte Höchste Weisheit mit einem herablassenden Lächeln. »Sexuelle Energie fördert die spirituelle Erleuchtung.«
Eine ziemlich gewitzte Entschuldigung für Orgien, dachte Sano voller Abscheu. »War Mariko vor sieben Tagen hier?«, fragte er.
»Wenn es so war, erinnere ich mich nicht daran«, erklärte Höchste Weisheit selbstgefällig.
Zorn loderte in Sano auf. Er kauert sich vor Höchste Weisheit nieder und starrte in dessen dunkle Augen – und damit in die unergründlichen Tiefen des Wahnsinns. »Entweder Ihr sagt mir die Wahrheit über Mariko, oder …«
»Oder Ihr tötet mich?« Höchste Weisheit grinste hämisch. »Ich werde sowieso hingerichtet. Darum habe ich beschlossen, nicht zu reden. Ihr könnt mich mit keiner Drohung davon abbringen, zu schweigen und meine Geheimnisse mit ins Grab zu nehmen.«
Sano sagte: »Ich kann Euch ins Gefängnis werfen lassen, während ich das Gerücht verbreite, dass Ihr die Namen Eurer Anführer genannt und dem bakufu verraten habt, wo wir sie finden. Sie werden Euch ihre Mörder schicken. Ihr werdet als Verräter der Schwarzen Lotosblüte verdammt und niemals Eure geistige Erleuchtung erreichen.«
Der spöttische Ausdruck in den Augen von Höchste Weisheit wich nackter Panik. »Nein!«, brüllte er.
»Doch«, sagte Sano, der sich über die Reaktion des Priesters freute. Er wusste aus Erfahrung, dass es das Schlimmste war, was man einem Anhänger der Schwarzen Lotosblüte antun konnte, wenn man den Zorn der Sekte auf ihn lenkte. Die Schwarze Lotosblüte konnte überall eindringen und den Tod auf eine so schmerzhafte Weise herbeiführen, dass es sogar die schlimmsten Folterknechte im Gefängnis von Edo beschämen würde. Und Fanatiker wie Höchste Weisheit glaubten, die Sekte hätte die Macht, ihn und seinesgleichen der glorreichen Erleuchtung zu berauben und dazu zu verdammen, für alle Ewigkeit in einer höllischen Unterwelt zu schmoren.
Höchste Weisheit stürzte zur Tür, doch die Ermittler packten ihn und drückten ihn auf die Knie. Sano beugte sich über ihn. »Ist Mariko vor sieben Tagen hierher gekommen?«, fragte er.
Die Fäuste geballt, schnaufte der Priester, als könne er jeden Augenblick vor Wut platzen. Der Atem drang zischend aus seinen Lungen. Als Höchste Weisheit seine Niederlage schließlich akzeptierte, brach er innerlich zusammen. »Ja, Mariko war hier«, flüsterte er mit bleichem Gesicht und hängenden Schultern.
»Warum?«, fragte Sano.
»Um über die Mutter des Shōgun zu berichten. Mariko sagte, dass Fürstin Keisho-in am nächsten Tag eine Reise plane.«
Sano sah seine Theorie bestätigt. »Mariko hat in jener Nacht also um die Erlaubnis gebeten, den Palast zu Edo zu verlassen, weil sie Euch sehen wollte«, sagte er. »Sie war Eure Spionin.«
Und Höchste Weisheit schien ein möglicher Verdächtiger im Entführungsfall zu sein. Der Anführer einer Sekte, die von Polizeikommandeur Hoshina verfolgt wurde und viele Anhänger hatte, die aus Rache töten würden. Das sonderbare Gedicht über den Drachenkönig könnte ein Produkt des Wahnsinns von Höchste Weisheit sein.
Doch Höchste Weisheit schüttelte den Kopf. »Nicht meine Spionin.«
»Warum hat sie Euch dann Bericht erstattet?«, fragte Sano verwirrt.
»Die Nachrichten von Mariko waren für jemand anderen bestimmt.«
»Für wen?«, fragte Sano.
»Einen Mann. Er betet in meinem Tempel«, erwiderte Höchste Weisheit. »Mariko kam hierher, um ihn zu treffen. Der Mann war nicht da. Sie hinterließ die Nachricht für ihn bei mir, falls er herkam. Dann machte sie sich auf den Weg, um den Mann zu
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