Der Palast
sie eher als Täter infrage als Naraya?«
Yanagisawa zog an seiner Tabakpfeife und stieß den Rauch aus, der sein Gesicht in Nebel hüllte. »Ich weiß es nicht.«
Die knappe Antwort des Kammerherrn hielt Sano davon ab, ihn nach Einzelheiten des Verhörs zu fragen. »Und was schlagt Ihr nun vor?«, fragte er stattdessen.
»Meine Truppen könnten Fürstin Keisho-in suchen, wie ich es zu Beginn der Ermittlungen vorgeschlagen habe. Das wäre eine bessere Strategie, als einen Mann zu suchen, von dem wir nicht wissen, ob er überhaupt existiert«, stieß Yanagisawa bitter hervor. »Ich habe den Abend mit dem Shōgun verbracht und seinen Schimpftiraden über die Entführung seiner Mutter gelauscht. Er drohte, Hoshina hinzurichten, das Heer auszuschicken und Euch und mich zu verbannen, weil unsere Ermittlungen zu keinen Ergebnissen führen. Möglicherweise gelingt es uns nicht, ihn die restlichen sieben Tage hinzuhalten.«
»Das müssen wir«, sagte Sano, der Yanagisawas Plan nach wie vor ablehnend gegenüberstand. Aufgrund der wachsenden Verzweiflung des Kammerherrn würde dieser bei seiner Suche nach Fürstin Keisho-in noch skrupelloser vorgehen und kaum Rücksicht auf Reiko und Midori nehmen. »Eine Jagd nach den Entführern ist zu gefährlich für die Geiseln. Wartet wenigstens, bis wir wissen, wer der Drachenkönig ist. Wenn wir seine Motive durchschauen, könnten wir vielleicht einen Weg finden, ihn zu überzeugen, die Frauen freizulassen, ohne dass es zu einem Kampf kommt, bei dem sie getötet werden könnten.«
Obwohl Sano keine Nachrichten von Hirata erhalten hatte, hoffte er, dass sein oberster Gefolgsmann die Geiseln finden würde, sodass er eine Rettungsaktion planen konnte, wenn die Zeit reif war.
Der Kammerherr strich sich schweigend mit Daumen und Zeigefinger übers Kinn, während er über Sanos Argumente nachdachte. Sein starrer Blick spiegelte seine Entschlossenheit.
»Wenn Euren Truppen bei der Rettung der Geiseln Fehler unterlaufen, weil sie nicht wissen, wo sie die Frauen suchen sollen oder mit wem sie es zu tun haben, und wenn Fürstin Keisho-in stirbt, wird Eure Lage schlimmer sein als jetzt«, ermahnte Sano den Kammerherrn.
Einen Moment musterten sich die beiden Männer. Das Zirpen der Zikaden draußen verwandelte sich in ein ohrenbetäubendes Kreischen. Dann ließ Yanagisawa die Hand sinken.
»Gut«, sagte er. »Ihr habt gewonnen – fürs Erste.« Kaum hatte Sano sich ein wenig entspannt, fügte Yanagisawa hinzu: »Ich gebe Euch Zeit bis heute Mittag, Euren geheimnisvollen Unbekannten zu finden. Anschließend übernehme ich die Ermittlungen und befehle meinen Truppen, die Geiseln zu suchen.« Er kniff drohend die Augen zusammen. »Wo wollt Ihr mit der Suche beginnen?«
Die kurze Zeitspanne bestürzte Sano. Er verwarf den Gedanken, Hoshina nach Anemones Mörder zu fragen, denn der sōsakan-sama nahm an, dass der Polizeikommandeur ihn bereits erwähnt hätte, wenn es eine Verbindung zwischen ihnen gäbe. Plötzlich hatte Sano eine Idee. Er schaute aus dem Fenster. Die dunkelste Stunde der Nacht war vorüber, doch der Morgen würde erst in einigen Stunden anbrechen.
»Eigentlich ist es noch zu früh, um einen Agenten des metsuke zu besuchen«, sagte Sano, »aber ich würde sagen, die Umstände rechtfertigen es, ihn aus dem Bett zu werfen.«
24.
L
autes Stöhnen drang durch die Stille im Turmgefängnis. Reiko erwachte aus einem leichten Schlummer. Ihre Augen blinzelten in das fahle, graue Mondlicht. Auf der anderen Seite des Raumes sah sie Midori auf dem Futon sitzen – die Hände um den Leib geschlungen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, als sie erneut stöhnte. Reiko warf ihre Decke zurück. Zitternd vor Kälte eilte sie zu Midori und kniete sich an deren Seite.
»Midori -san , was ist?«, fragte Reiko.
»Ein Krampf … hat mich geweckt. Aber es ist schon wieder vorbei …« Nachdem Midoris Züge sich entspannt hatten, schlug sie beschämt die Augen nieder. »Ich habe das Bett benässt.«
Reiko senkte den Blick und entdeckte Blutflecke auf Midoris Futon und auf dem Boden. Sie spürte, dass das warme Blut ihren Kimono durchdrang und ihre Knie nässte.
»O nein«, rief Reiko. Sie hatte gehofft, dass dieser Fall erst eintreten würde, wenn sie wieder nach Hause zurückgekehrt waren.
Fürstin Yanagisawa richtete sich auf, zog die Decke bis ans Kinn und blinzelte mit schläfrigen Augen. Fürstin Keisho-in ließ sich auf eine Seite fallen und sagte in heiserem, schwachem Ton: »Was ist
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