Der Palast
was in ihn gefahren war, trat er an den Rand des Podiums … und blieb dort stehen. Ein Verhör einer Dienerin war unter seiner Würde. Der Shōgun musste ein seinem Rang gemäßes Verhalten an den Tag legen und seine Untergebenen solche Laufarbeit machen lassen. Von dem Wunsch beseelt, Sano und Yanagisawa wären hier im Palast, um ihm das Dilemma zu ersparen, trat er einen Schritt vom Rand des Podiums zurück. Doch der Gedanke an seine Ermittler ließ ihn verharren.
Warum eigentlich hatten sie die Nachforschungen übernommen? Seine Mutter war in Gefahr, nicht ihre. Tokugawa Tsunayoshi spürte heiße Wut auf Yanagisawa und Sano in sich auflodern. Immer öfter hatte er den Verdacht, dass sie sich für schlauer hielten als er und glaubten, besser in der Lage zu sein, wichtige Entscheidungen zu treffen. Der Shōgun erinnerte sich, dass er Polizeikommandeur Hoshina zuerst hinrichten lassen wollte, als der Erpressungsbrief eingetroffen war, seine Meinung dann aber geändert hatte … oder war es der sōsakan-sama gewesen? Hatte Sano sich mit Yanagisawa verbündet und ihn, den Shōgun, dazu getrieben, seine Meinung zu ändern? Tokugawa Tsunayoshi fragte sich, wie viele seiner anderen Entscheidungen die beiden Männer wohl noch beeinflusst hatten. Groll und Argwohn verwandelten sich in Wut auf seinen treuen Kammerherrn und den sōsakan-sama. In Zukunft würde er ihnen keine wichtigen Aufgaben mehr anvertrauen. Es wurde Zeit, dass er auf eigenen Beinen stand.
»Die Besprechung wird verschoben«, beschloss der Shōgun. Er sprang von dem Podium und zeigte auf seine wichtigsten Gefolgsleute und auf Dr. Kitano. »Folgt mir.«
»Wohin gehen wir, Herr?«, fragte Uemori erstaunt.
»In den … äh, Krankenraum, um Suiren zu verhören.« Während die Versammelten den Shōgun sprachlos musterten, verließ dieser in königlicher Pose den Saal.
Berechtigte Empörung trieb ihn aus dem Palast hinaus, durch die Gärten, Höfe und Passagen des Palasts, bis auf die Schwelle des Krankenzimmers. Jähe Angst gebot ihm ebenso wie seinen Gefolgsleuten Einhalt, als sie den Schrein vor dem niedrigen, mit Stroh gedeckten Haus erreicht hatten. Durch das Zimmer schwebte der Geist der Krankheiten, und der Tod, der dort unzählige Male Einzug gehalten hatte, sorgte für spirituelle Verunreinigung und besudelte diesen Ort. Den Shōgun, dessen Gesundheit angegriffen war, überkamen Übelkeit und Schwindel bei dem Gedanken, einzutreten. Doch um seiner Mutter willen musste er es tun.
Er zog ein sauberes weißes Tuch unter seiner Schärpe hervor und band es sich über Mund und Nase, um die bösen Geister zu vertreiben und eine Ansteckung zu vermeiden. »Schreiten wir … äh, zur Tat«, sagte er.
Einer der Gefolgsleute öffnete die Tür des Krankenzimmers, trat ein und verkündete: »Unser Herr, der Shōgun!«
Zögernd betrat der Shōgun das Krankenzimmer und blickte auf Ärzte und Gehilfen, die ihn schockiert anstarrten, weil sie ihn nie zuvor an diesem Ort gesehen hatten. Sie knieten nieder und verneigten sich. Tokugawa Tsunayoshi trat zu der Kranken ans Bett.
»Ihr müsst … äh, Suiren sein«, begann er. Die ungesunde Blässe der Kranken und ihr vom Tod gezeichneter Körper veranlassten ihn, sich ein Stück vom Bett entfernt auf den Boden zu kauern.
Die Leibdienerin starrte den Shōgun ehrfürchtig an. »Euer Besuch ehrt mich, Herr«, flüsterte sie mit leiser, krächzender Stimme.
Der Shōgun, der von seinen Gefolgsleuten und den Ärzten beobachtet wurde, fühlte sich befangen und unsicher. Nie zuvor hatte er die Zeugin eines Verbrechens verhört. »Erinnert Ihr Euch, wie Ihr … äh, verwundet wurdet?«, fragte er.
Suiren deutete mühsam ein Nicken an. »Wir wurden auf der Tōkaidō von Männern überfallen. Sie haben die Soldaten und die Dienerschaft getötet. Fürstin Keisho-in wurde gefangen genommen.« In den Augen der Leibdienerin schimmerten Tränen.
Zum Glück ist ihre Erinnerung nicht ausgelöscht, überlegte der Shōgun. Vielleicht war es gar nicht so schwer. »Ich möchte, dass Ihr mir alles erzählt, was während des Überfalls … äh, geschehen ist«, sagte er.
Die Leibdienerin sprach über das entsetzliche Blutbad, dessen Zeugin sie geworden war. Ab und zu verstummte sie, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen und neue Kraft zu schöpfen. »Ich wurde aus meiner Sänfte gerissen. Ein Mann stach mich nieder. Ich fiel zu Boden, schlug mit dem Kopf auf und verlor das Bewusstsein. Als ich erwachte, lag ich in einer Blutlache.
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