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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
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drehte ihre ineinander verschlungenen Hände um, sodass seine Hand oben lag. Mit den Fingerspitzen der anderen Hand streichelte sie sanft und gefühlvoll über seinen Handrücken – eine Zärtlichkeit, mit der sie Sano häufig bedachte. Es schmerzte sie, denn sie hatte das Gefühl, Sano durch diese erste freiwillige Berührung des Drachenkönigs zu betrügen. Doch an diesem wichtigen Punkt musste Reiko alle Mittel einsetzen, zumal sie nach wie vor sicher war, ihre Tugend zu verlieren.
    »Der Turm ist zu weit von Euch entfernt.« Reiko schlang ihre Finger um das Handgelenk des Drachenkönigs. »Lasst mich in den Palast bringen, wo wir uns nahe sind.« Ihr Raunen versprach Nächte voller wilder Leidenschaft. Doch hinter ihren verführerischen Zärtlichkeiten verbargen sich ihre Qualen.
    Der Drachenkönig stöhnte. Während Reiko seinen Arm streichelte, schloss er die Augen und schauderte vor Wonne. Reiko spürte seine wachsende Begierde, doch er kämpfte sie nieder, rückte von ihr ab, trat auf den Balkon und lehnte sich keuchend gegen das Geländer.
    Reiko war erleichtert, dass ihr weitere Zärtlichkeiten erspart blieben; zugleich verwirrte sie seine Reaktion. Obwohl der Drachenkönig sich nichts sehnlicher zu wünschen schien, als sie zu besitzen, hielt irgendetwas ihn davon ab, seine Lust zu befriedigen. Was war der Grund?
    Reikos Hoffnungen schwanden, als sie an Midori dachte, die in den Wehen lag, und an das erbärmliche Gefängnis. Wenn dieser erste Versuch scheiterte, den Drachenkönig zu beeinflussen – welche Chance hatte sie dann noch, sich und ihre Freundinnen zu befreien?
    »Ich werde über Eure Bitte nachdenken«, sagte der Drachenkönig, der Reiko noch immer den Rücken zuwandte. Dann rief er: » Ota-san, bringt sie fort.«

26.
    D ie staatlichen Archive waren in einem Gebäude im Beamtenviertel des Palasts zu Edo untergebracht. Hier hatte Sano gearbeitet, nachdem er in den bakufu aufgenommen worden war und bevor er die Polizeilaufbahn einschlug, die bis zu seiner Ernennung zum sōsakan-sama des Shōgun geführt hatte. In dem größten Büro schoben Schreiber und Gehilfen Schreibpulte zur Seite, auf denen sie ihre Abschriften anfertigten, Dokumente sortierten und Formulare ausfüllten. Der Oberste Archivar, ein dicklicher Samurai mittleren Alters namens Noguchi, der seinen einstigen Mitarbeiter Sano überschwänglich begrüßt hatte, legte große Karten von Japan auf den gesäuberten Boden.
    Sano und Kammerherr Yanagisawa knieten nieder, um diese sorgfältig angefertigten Karten zu überprüfen. Blaue Farbe wies auf Flüsse, Seen und Meere hin, grüne Farbe auf Wälder, und die braune Farbe zeigte Gebirge. Die Namen der Städte und Landbesitzer waren mit Tusche auf die Karten geschrieben.
    »Dannoshin Minoru muss einen bestimmten Ort im Kopf gehabt haben, als er die Frauen entführt hat«, sagte Sano.
    »Er wird nicht damit gerechnet haben, zufällig ein geeignetes Gefängnis zu finden«, pflichtete Yanagisawa ihm bei. »Ein Mann, der seit zwölf Jahren seinen Rachefeldzug plant, ist weder sprunghaft in seinen Entscheidungen noch vertraut er seinem Glück.«
    »Und er wird wissen, wie er es vermeidet, Aufmerksamkeit zu erregen, während er die Mutter des Shōgun gefangen hält«, sagte Sano. »Er würde kein Zimmer in einem Gasthof oder ein Haus in einem Dorf mieten, weil Menschen, die von der Entführung gehört haben, misstrauisch werden könnten.«
    Yanagisawa betrachtete eine Karte der Region Hakone. »In der Wildnis in der Nähe des Tatorts gibt es Höhlen. Vielleicht hat er vor dem Überfall auf den Pilgerzug eine solche Höhle entdeckt und die Geiseln dorthin gebracht.«
    »Schon möglich«, murmelte Sano. »Aber ich wette, dass Dannoshin Eigentum besitzt, eine sichere Unterkunft, wo niemand zufällig vorbeikommt und ihn bei den Behörden anzeigen kann.«
    »Wenn es so sein sollte, kann dieser Besitz nicht weit vom Tatort entfernt sein«, überlegte Yanagisawa. »Schließlich musste er die Frauen schnell verstecken, um nicht entdeckt zu werden und das Risiko ihrer Flucht zu verringern.«
    Sano malte mit dem Finger die weiße Linie auf der Karte nach, die den Verlauf der Tōkaidō kennzeichnete. Sein Finger verharrte an dem gewundenen Abschnitt, an dem die Reisegesellschaft Fürstin Keisho-ins in den Hinterhalt gelockt worden war. Dann zeichnete er einen unsichtbaren Kreis rund um den Tatort, dessen Radius so groß war, dass man die Entfernungen vom Tatort an einem Tag zurücklegen konnte. In dem

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