Der Palast
gefragt, ohne eine Erklärung zu bekommen. Reiko trat ein Stück zur Seite.
»Ich wüsste zu gern, was das zu bedeuten hat«, sagte sie.
»Könnte es nicht sein, dass die Entführer gegeneinander kämpfen?«, fragte Fürstin Yanagisawa. »Oder dass die Männer sich gegen ihren Anführer auflehnen?«
Eine Meuterei würde den Tumult erklären, dachte Reiko. Möglicherweise hatte der Drachenkönig sie deshalb nicht mehr zu sich gerufen, seitdem er Reiko gestern den Grund für sein Verbrechen verraten und sie ihn vergebens angefleht hatte, die Insel mit ihr gemeinsam zu verlassen. Doch es könnte auch einen anderen Grund für den Tumult geben, und der weckte neue Hoffnung in Reiko.
»Vielleicht ist jemand gekommen, um uns zu retten«, sagte Fürstin Keisho-in und sprach damit aus, was Reiko dachte.
»Ich hoffe, es sind Hirata -san und Sano -san «, stieß Midori hoffnungsvoll hervor. »Vielleicht befreien sie uns endlich aus diesem Gefängnis.«
Auch Reiko hoffte, dass die Männer gekommen waren, um sie zu retten. Doch sie fragte sich, warum es so lange dauerte, falls Sano und die anderen auf der Insel waren. Außerdem spürte sie Sanos Anwesenheit nicht, was normalerweise stets der Fall war, wenn ihr Gemahl sich in ihrer Nähe aufhielt.
Fürstin Yanagisawa gesellte sich zu Reiko ans Fenster. »Könnte es nicht sein, dass unsere Befreier gegen den Drachenkönig kämpfen?«, flüsterte die Fürstin.
»Ich fürchte ja«, erwiderte Reiko leise. »Fast ein ganzer Tag ist vergangen, seitdem der Tumult ausgebrochen ist, und wir sind noch immer in Gefangenschaft. Das könnte bedeuten, dass der Drachenkönig seine Festung erfolgreich verteidigt.«
»Wenn seine Männer unsere Befreier töten, werden wir niemals gerettet«, jammerte Fürstin Yanagisawa mit sorgenvoller Miene.
Reiko nickte betrübt, als ihr ein anderer, unangenehmer Gedanke durch den Kopf schoss. »Egal, ob jemand versucht, uns zu retten, oder ob es sich um einen Aufstand handelt – für uns könnte beides tödliche Folgen haben. Ein Angriff des bakufu könnte den Drachenkönig in Panik versetzen, sodass er seine Drohung in die Tat umsetzt und uns tötet. Ebenso gut könnten wir in einer Schlacht zwischen ihm und seinen eigenen Männern getötet werden.«
Ihre gestern gewonnene Überzeugung hatte auch heute noch Gültigkeit. »Wenn ich nicht zum Drachenkönig gerufen werde, ihn töte und uns befreie, werden wir sterben.« Reiko war zwischen ihren Gefühlen hin und her gerissen. Einerseits betete sie, dass der Drachenkönig sie zu sich rief; andererseits wartete sie sehnsüchtig auf Rettung, damit ihr erspart blieb, was sie tun zu müssen glaubte.
Hirata, Marume und Fukida kauerten hinter einem mit Moos bewachsenen Felsblock im Garten des Palasts. Sie erblickten zwei brutal aussehende Kerle, die durch das hohe Gras auf sie zuschritten. Die beiden Männer mit dem wachsamen Jägerblick trugen Eisenkeulen bei sich. Hirata war froh, dass die Insel zahlreiche Verstecke bot. Überdies erleichterte das trübe Wetter es ihm und seinen Ermittlern, unentdeckt zu bleiben. Doch es bereitete ihm Sorge, dass die Entführer nun in Zweiergruppen Jagd auf sie machten. Dadurch büßten Hirata und seine Gefährten den Vorteil ein, den sie im Kampf gegen einzelne Verfolger gehabt hatten. Sobald sie sich dem Teil des Palasts näherten, in dem Midori gefangen gehalten wurde, jagten die Entführer sie davon. Nachdem sie eine Nacht, einen Vormittag und einen Nachmittag einen zermürbenden Kampf gegen den Feind geführt hatten, war ihre Energie erschöpft. Müdigkeit, Hunger und der Kräfteverbrauch quälten Hirata ebenso wie seine Erkältung. Wie lange würden sie den Kampf auf Leben und Tod noch durchhalten?
Die Verfolger schritten an ihrem Versteck vorbei. Marume sprang hinter dem Felsen hervor, stürzte sich auf den ersten Mann und schlang seinen kräftigen Arm um dessen Hals. Ein kurzes Knacken, ein erstickter Schrei, und der Verfolger brach tot zusammen. Sein Komplize fuhr herum. Als er Marume erblickte, hob er blitzschnell seine Keule. Mit schwingendem Schwert stürzte Hirata sich auf den Feind und schlitzte ihm den Bauch auf. Als der röchelnde Mann zusammenbrach, entdeckte Hirata zwei Samurai, die sich von hinten an Fukida heranschlichen, der neben dem Felsen hockte.
»Pass auf!«, rief Hirata.
Mit erhobenem Schwert wirbelte Fukida herum, wehrte die Hiebe des Mannes ab und fügte ihm einen tiefen Schnitt quer über den Unterleib zu. Hirata und Marume schalteten
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