Der Palast
zu lassen, denn er rief keinen anderen Wachposten herbei, der seinen Platz einnehmen sollte. Reiko fragte sich, warum die Bewachung der Frauen plötzlich vernachlässigt wurde. Doch der Grund war ihr gleichgültig. Jetzt kam es für sie nur darauf an, den Drachenkönig auszuschalten und ihre Freundinnen zu befreien.
Ota führte sie durch einen der überdachten Durchgänge, die die einzelnen Flügel des Palasts miteinander verbanden, und durch den Garten. Reiko sah sich nach den Männern um, die normalerweise rund um den Palast Wache hielten, doch heute lag er schaurig und verlassen da. Durch hohe, dichte Sträucher zu ihrer Linken erblickte sie zwei Posten, die rasch vorbeiliefen und ein langes, schlaffes Bündel über den Boden schleiften. Reiko riss die Augen auf: Es schien sich um eine Leiche zu handeln.
Jetzt wusste sie, warum hier keine Wachen standen.
Irgendjemand metzelte sie nieder.
Ota stieß Reiko durch eine Tür ins Innere des Palasts. Als sie die Treppe hinaufstiegen, hörte sie den Drachenkönig sagen: »Habt Ihr die Eindringlinge noch nicht geschnappt?«
»Nein, Herr«, erwiderte eine Männerstimme aus einiger Entfernung.
»Wie kommt es, dass sie unsere Männer einen nach dem anderen töten, obwohl sie nur zu dritt sind und einem ganzen Heer gegenüberstehen?«, fragte der Drachenkönig. »Wie können sie Euch auf dieser kleinen Insel entwischen?«
»Verzeiht, Herr, aber ich muss zugeben, dass sie sehr gerissen sind«, sagte der andere Mann. »Zum Glück ist es uns gelungen, sie vom Quartier der Frauen fern zu halten, in das sie mehrmals eindringen wollten.«
Reiko jubelte im Stillen. Die Retter waren tatsächlich auf der Insel! Doch augenblicklich wurde ihre Hochstimmung von Zweifeln vertrieben. Ob die Retter das Heer des Drachenkönigs besiegen können?, fragte sie sich.
»Vielleicht sollten wir uns einen Ort suchen, der sicherer ist«, sagte der Mann.
»Kein Ort ist sicherer als dieser«, erwiderte der Drachenkönig. »Ich werde mich von niemandem verjagen lassen und auch meine Pläne nicht ändern.«
Ota stieß Reiko in das Gemach. Der Drachenkönig stand auf dem Balkon und wandte ihr den Rücken zu. Der Brokatdrache auf seinem Kimono schien sich zu bewegen. »Jagt die Eindringlinge«, befahl der Drachenkönig einem Mann, der draußen stand. »Sorgt dafür, dass sie nicht zu den Gefangenen vordringen und die Insel nicht verlassen.«
Nachdem er sich umgedreht und Reiko erblickt hatte, sagte er zu Ota: »Hilf den anderen, die Eindringlinge zu schnappen.« Ota widersprach, doch der Drachenkönig wies seinen Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung zurück. Ota warf Reiko einen wütenden Blick zu, ehe er das Gemach verließ. Als der Drachenkönig sich Reiko mit langsamen Schritten näherte, zwang sie sich zu einem Lächeln, obwohl sie vor Angst bebte. Jetzt war es wichtiger denn je, dass ihr Plan gelang. Sie musste den Rettern helfen, indem sie den Drachenkönig tötete, bevor ihr etwas zustoßen konnte. Sie musste sich und ihre Freundinnen aus dem Palast befreien, den die Männer dieses Verrückten bis jetzt erfolgreich verteidigt hatten.
»Seid gegrüßt, Anemone«, sagte der Drachenkönig.
Er wirkte besorgt und abgelenkt. Reiko atmete tief ein, nahm allen Mut zusammen, trat nahe an ihn heran und begann mit dem gefährlichen Schauspiel, durch das sie die Freiheit zu erlangen hoffte.
»Was bedrückt Euch, Herr?«, fragte sie mit vorgetäuschter Besorgnis.
»Nichts, was Euch beunruhigen müsste«, erwiderte er kurz angebunden.
Reiko verdrängte alle Gedanken an die Gefahren, denen sie sich aussetzte, und an Sano, den sie durch ihr Handeln betrügen würde, weil ihr keine andere Wahl blieb. Sie löste den Knoten ihrer Schärpe und ließ Anemones seidene Kleider in verführerischer Pose über ihre Schultern gleiten. Trotz aufkeimender Panik fragte sie in betörendem Tonfall: »Kann ich Euch vielleicht helfen?«
Zärtliche Gefühle lösten die starren Gesichtszüge des Drachenkönigs. Begierde schimmerte in seinen Augen, als er auf ihre nackte Haut starrte. »Eure Gegenwart reicht aus, mich zu trösten.«
»Es ist viel Zeit verstrichen, seit Ihr mich zu Euch gerufen habt. Ich befürchtete schon, es wäre etwas Schlimmes geschehen«, sagte Reiko. »Ich hatte Angst, wir würden uns nie wieder sehen.«
»Verzeiht, dass ich Euch so lange nicht an meine Seite gerufen habe, Anemone«, bat der Drachenkönig. »Ich war zu beschäftigt. Doch es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich habe alles
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