Der Palast
glatte Seidenstoff rutschte unter den Füßen des Drachenkönigs weg. Als er in die Luft geschleudert wurde, fing er an zu kreischen und streckte den Bruchteil einer Sekunde die Arme zur Seite, ehe er zu Boden stürzte. Sein Kopf schlug dumpf auf dem Boden auf. Er lag reglos da, einen Ausdruck maßlosen Erstaunens in den Augen.
Reiko schaute verblüfft auf ihn hinunter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihre geschärfte Wahrnehmung wich wieder den normalen Empfindungen, und die Zeit schlug wieder im gewohnten Takt. War der Drachenkönig tot oder nur bewusstlos? Vorsichtig streckte Reiko die Hand nach dem Schwert aus.
In diesem Augenblick drangen aufgeregte Stimmen aus den unteren Etagen zu ihr herauf. Reiko erschrak bis ins Mark. Über den Gang des unteren Stockwerks hallten laute Schritte. Sie musste um jeden Preis verhindern, dass die Wachen sie zu fassen bekamen. Hastig zog sie den blauen Kimono an und band die Schärpe zu. Sie hob das Langschwert auf und eilte aus dem Schlafgemach ins Vorzimmer. Männer kamen die Treppe heraufgestürmt. Da sie den Fluchtweg durch die Tür jeden Augenblick versperren würden, rannte Reiko hinaus auf den Balkon.
Der Wind zerzauste ihr Haar. Unter dem Sternenhimmel lagen der dunkle Wald und der See. Die Wachen erreichten den Gang vor dem Schlafgemach.
»Soldaten in Booten kommen über den See!«, rief Ota. »Die Insel wird gestürmt!«
Reiko nahm sich nicht die Zeit, sich zu fragen, wer die Angreifer waren oder welche Gefahr ein Sprung vom Balkon mit sich brachte. Sie kletterte übers Geländer und sprang. Nach einem kurzen Fall durch die Dunkelheit landete sie in einem Dornbusch. Es dauerte einen Moment, bis sie sich daraus befreit hatte, was nicht ohne Kratzer abging. Von oben hörte sie die Schreie der Wachen: Sie hatten den Drachenkönig gefunden. Reiko zog das Schwert aus der Scheide und rannte durch den Garten. Mittlerweile müsste Ota entdeckt haben, was mit seinem Herrn geschehen war. Und nun wusste er auch, dass Reiko entkommen war – und wohin sie gehen würde. Sie musste vor ihm dort sein!
Inmitten der Schreie und Schüsse lief Reiko um den Palast herum. Sie hörte das Plätschern des Sees und sah die Fackeln, die über die Insel huschten. Endlich fand sie den vertrauten Durchgang. Sie eilte ins Gebäude hinein und bahnte sich tastend einen Weg über den düsteren Gang. Ihre Hand strich über die Tür. Keuchend zog sie den Metallriegel heraus und riss die Tür auf.
Im Mondlicht erkannte Reiko die schemenhaften Gestalten von Fürstin Yanagisawa, Keisho-in und Midori, die in einer Ecke kauerten. Die Frauen schrien auf, als sie Reiko erblickten – zerschlagen, blutig, zerzaust, mit einem Schwert bewaffnet und allein.
»Reiko -san !«, rief Midori. »Was ist geschehen?«
»Das erkläre ich dir später«, sagte Reiko. »Wir müssen uns schnellstens aus dem Staub machen!«
31.
M
it dem erhobenen Schwert in der Hand eilte Reiko durch den Palast. Sie stützte Midori, die das jammernde Baby an sich drückte und mühsam versuchte, mit ihrer Freundin Schritt zu halten. Fürstin Yanagisawa und Keisho-in folgten ihnen dichtauf. Lichter, die durch den Garten irrten, erhellten die Ruinen und nahmen Reiko sekundenlang die Sicht. Surrende Pfeile und hastige Schritte klangen durch die Nacht. Schussfeuer blitzten und dröhnten. Die Frauen taumelten ins Freie. Hinter einer verfallenen Mauer sah Reiko den See zwischen den Bäumen hindurch schimmern und die dunklen Umrisse des Stegs. Als sie mit ihren Freundinnen auf die Boote zusteuerte, näherten sich ihnen rasche Schritte von der rechten Seite.
»Stehen bleiben!«, brüllte Ota.
Reiko war entsetzt, als sie Ota und einen anderen Samurai erblickte. Die Männer liefen geradewegs auf sie und ihre Freundinnen zu. Midori stieß vor Angst einen schrillen Schrei aus. Fürstin Yanagisawa rief: »Nein!« Reiko drehte sich zu Keisho-in um. Die Mutter des Shōgun eilte humpelnd zurück zum Palast. Fürstin Yanagisawa folgte ihr. Dann verschluckte die Dunkelheit die beiden Frauen. Reiko geriet in Panik, als sie begriff, dass ihre Flucht behindert wurde und die schreckliche Angst ihre Freundinnen in alle Richtungen zerstreute. Sie zerrte Midori hinter sich her und folgte den beiden anderen Frauen. Sie schlängelten sich zwischen den Bäumen hindurch, deren Äste ihnen ins Gesicht schlugen, und liefen mühsam über Steine, die von Unkraut überwuchert waren. Reiko hörte die gedämpften Schreie von Fürstin Yanagisawa und Keisho-in, konnte
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