Der Palast
Nadeln strotzten. Vögel flatterten vorüber, wenngleich sie kaum mehr waren als flüchtige Schemen aus Farben und Bewegung. An der vierten Wand des Raumes erblickte Reiko einen Ausschnitt des strahlend blauen Himmels. Sie hörte das Plätschern der Wellen und das Kreischen von Möwen, als sie den Kopf hin und her drehte und versuchte, einen Blick auf Gebäude oder Menschen zu erhaschen. Doch nichts und niemand war zu sehen. Verzweiflung überkam Reiko. Das Verlies schien sich in einer abgelegenen Gegend zu befinden, fern aller Hilfe.
»Oh!«, rief Midori plötzlich und setzte sich auf. Verwunderung spiegelte sich in ihren verweinten Augen.
»Was ist?« Reiko eilte zu ihr und kniete neben ihr nieder.
»Mein Kind hat sich bewegt!« Midori lachte freudig auf. »Ihm ist nichts geschehen!«
»Den Göttern sei Dank«, sagte Reiko erleichtert.
Plötzlich verkrampfte sich Midoris Körper, und sie stöhnte auf. Als Antwort auf den fragenden Blick Reikos sagte sie: »Ich hatte einen Krampf …«
»Das ist ein Zeichen, dass dein Kind bald zur Welt kommt«, sagte Fürstin Keisho-in und nickte wissend.
Furcht erschien auf Midoris Gesicht, und auch Reiko erkannte, dass ihnen ein weiteres Problem bevorstand. Was, wenn Midori in diesem Verlies die Wehen bekam? Und dass Reiko selbst ein Kind geboren hatte, machte sie noch lange nicht zu einer Hebamme. Falls es zu Komplikationen kam, würde sie hilflos dastehen. Wer konnte Midori helfen? Reiko warf einen verstohlenen Blick auf Keisho-in. Jedes Mal, wenn im Palast jemand krank wurde oder sich verletzte, geriet die Mutter des Shōgun in Panik; der Anblick leidender Menschen machte sie krank. Nein, als Hebamme wäre sie keine Hilfe. Reiko richtete den Blick auf Fürstin Yanagisawa – und plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Frau seit Stunden weder ihre Haltung verändert noch einen Laut von sich gegeben hatte.
»Fürstin Yanagisawa?«, sagte Reiko.
Als die Fürstin nicht reagierte, ging Reiko zu ihr und schüttelte behutsam ihre Schultern. Schlaff und ohne fühlbaren Widerstand rollte der Körper der Frau auf Reikos Seite. Ihre halb geöffneten, trüben Augen blickten ins Leere, und ihre bleiche Haut besaß einen grünlichen Farbton. Eine Fliege landete in dem Speichel, der auf ihren leicht geöffneten Lippen schimmerte. Sie zuckte nicht einmal zusammen.
»Fürstin Yanagisawa, Ihr müsst aufwachen!«, sagte Reiko, deren Stimme bebte, als sie es mit der Angst bekam, denn die Fürstin rührte sich nicht, noch erwiderte sie etwas. Reiko berührte die Hände der Frau. Sie waren schlaff und kalt wie Eis. Keisho-in kam herbei und gesellte sich zu Reiko.
»Ist sie tot?«, fragte Keisho-in und starrte erschauernd in Fürstin Yanagisawas Gesicht.
So sehr Reiko die Gemahlin des Kammerherrn fürchtete – den Tod dieser Frau wollte sie nicht. Sie war die Mutter einer geistig zurückgebliebenen Tochter, und das Kind brauchte sie. Außerdem fühlte Reiko sich für Fürstin Yanagisawa verantwortlich, denn sie, Reiko, war schließlich der Grund dafür, dass die Fürstin sich auf diese unglückselige Reise begeben hatte. Wäre ihre Freundschaft nicht gewesen, hätte Keisho-in die Fürstin wohl gar nicht erst zu der Pilgerfahrt eingeladen. Schuldgefühle überkamen Reiko, gepaart mit Angst.
»Nein. Bitte, nein …«, sagte sie, schüttelte Fürstin Yanagisawa, schlug ihr auf die Wangen und rief ihren Namen. Doch die Frau blieb stumm wie eine Stoffpuppe.
»Jetzt sind wir hier mit einer Leiche gefangen!«, jammerte Keisho-in. »Unsere Seelen werden von den Ausdünstungen des Todes besudelt! Und der Geist dieser Frau wird uns heimsuchen!« Sie huschte in die entfernteste Ecke des Raumes, kniete nieder, schloss die Augen und begann einen Gebetsgesang.
»Ach, Reiko -san , was sollen wir jetzt tun?«, schluchzte Midori, die Arme schützend auf den Leib gelegt.
Am liebsten hätte Reiko die Mutter des Shōgun beschimpft, dass sie Midori so sehr in Angst und Schrecken versetzt hatte; stattdessen warf sie einen näheren Blick auf Fürstin Yanagisawa. War sie beim Angriff der Maskierten verletzt worden? Konnte sie wiederbelebt werden? Reiko drehte die Fürstin auf die Seite, öffnete deren Umhang und den Kimono und betrachtete den bleichen Oberkörper mit den flachen Brüsten, besah sich die kräftigen Gliedmaßen und untersuchte dann den Rücken, entdeckte aber keine Schnittwunden und kein Blut, lediglich Kratzer und Schürfwunden, die die rauen Stricke hinterlassen hatten. Und ihr Körper war
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