Der Palast
jeder Hand trug er einen Holzeimer mit Deckel.
»Das ist euer Essen und Trinken«, sagte der Anführer zu den Frauen.
Der junge Mann stellte die Eimer zu Boden. »Endlich!«, rief Fürstin Keisho-in, kroch zu den Eimern und hob die Deckel ab. Reiko sah, dass einer der Eimer Wasser enthielt. In dem anderen befanden sich mochi – fladenähnliche Reiskuchen – und eingelegtes Gemüse. Keisho-in verzog angewidert das Gesicht.
»Diesen Abfall kann ich nicht essen«, sagte sie.
»Das werdet Ihr aber, denn mehr bekommt Ihr nicht«, erklärte der Anführer.
Bevor Reiko sie warnen konnte, den Mann nicht zu reizen, erhob Keisho-in sich auf die Knie. »Ich verlange, dass Ihr uns eine gute, warme Mahlzeit bringt!«, stieß sie hervor. »Und wo wir gerade dabei sind … schafft diese schmutzigen Eimer weg und bringt mir heißes Wasser, damit ich mich waschen kann.«
Der Anführer lachte verächtlich. »Ihr gebt hier nicht die Befehle.«
»Wisst Ihr, wer ich bin?« Die wässrigen alten Augen Keisho-ins funkelten. »Ich bin die Mutter des Shōgun! Mein Wort ist überall Gesetz! Und ich befehle Euch, zu tun, was ich sage, und uns anschließend zur nächsten Kontrollstation an der Tōkaidō zu bringen, von wo aus wir nach Hause reisen werden!«
Der Anführer beachtete sie gar nicht, sondern nickte den anderen Männern knapp zu und ging mit ihnen zur Tür.
»Bleibt gefälligst hier, wenn ich mit Euch rede!«, rief Keisho-in, während Reiko stumm darum flehte, sie möge endlich still sein. »Sagt mir, was ihr mit uns vorhabt. Und sagt mir eure Namen, damit ich sie meinem Sohn melden kann!«
Die Männer antworteten nicht, sondern gingen weiter. Mit einem zornigen Aufschrei ergriff Keisho-in einen Reiskuchen und schleuderte ihn nach den Männern.
»Nein!«, riefen Reiko und Midori zugleich, doch es war bereits geschehen.
Keisho-in warf weitere Reiskuchen nach den Männern. Einer traf den Anführer an der Wange. Zorn verdüsterte sein Gesicht, und seine geblähten Nasenflügel weiteten sich noch mehr. Er stapfte zu Keisho-in und trat den Eimer mit den Speisen zur Seite, sodass diese über den Fußboden verstreut wurden. Keisho-in, deren Zorn vor Angst verraucht war, fiel vor Schreck aufs Hinterteil. Der Mann packte ihre Handgelenke, zerrte sie mit einen Ruck hoch und schleuderte sie durch eine Körperdrehung in eine Ecke des Verlieses.
Keisho-in schrie auf, rutschte über den Boden und prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass der Putz abbröckelte. Entsetzen packte Reiko. Midori schlug die Hände vor den Mund.
»Das nächste Mal töte ich Euch.« Der Anführer sprach zu Keisho-in, doch sein warnender Blicke erfasste auch Reiko und Midori. Dann verließ er mit den anderen Männern den Raum.
Die Tür knallte zu. Klirrend wurden die Riegel vorgeschoben. Dann entfernten sich die Schritte der Männer die Treppe hinunter. Die Außentür wurde geschlossen, und wieder war das Rascheln von Blättern zu hören, als die Gruppe davonging. Reiko, Midori und Keisho-in saßen fassungslos und stumm inmitten der verstreuten Speisen. Ihr abgehacktes Atmen war das einzige Geräusch. Fürstin Yanagisawa lag bewusstlos auf dem Boden. Draußen erklang das Keckem von Eichhörnchen; es schien, als wollten die Tiere sich über die Frauen lustig machen. Noch immer zitterten Reikos Knie vor Angst. Schließlich ging sie mit unsicheren Schritten zu Keisho-in.
»Ist Euch etwas geschehen?«, fragte sie.
»Dieser Kerl hat mir das Handgelenk gebrochen!«, stieß die Fürstin mit schmerzerfüllter Stimme hervor und hielt Reiko die Hand hin, damit sie sich die Verletzung anschauen konnte.
»Es ist geschwollen«, sagte Reiko, wobei sie behutsam die altersfleckige Haut auf Keisho-ins Handgelenk abtastete, »aber ich glaube, es ist bloß verstaucht.« Sie riss ein Stück von ihrer Schärpe ab und wickelte es um das Handgelenk der Fürstin.
»Eines Tages wird diese Bestie bereuen, dass sie es gewagt hat, mich zu verletzen!« Die alte Frau schäumte vor Wut.
»Bis dahin solltet Ihr lieber darauf verzichten, ihn noch einmal zu reizen«, sagte Reiko und versuchte, sich ihren eigenen Zorn auf Keisho-in nicht anmerken zu lassen. Sie fühlte sich verpflichtet, die Mutter des Shōgun zu beschützen. »Der Mann ist gefährlich. Er hätte uns alle töten können.«
Doch Keisho-in war sich offenbar keiner Schuld bewusst und verzog schmollend das Gesicht. Dennoch wich Reikos Zorn einem Gefühl des Mitleids. Seit Keisho-in vor mehr als fünfzig Jahren den
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