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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
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Shōgun zur Welt gebracht hatte, war sie von jedem umschmeichelt und verhätschelt worden; nie hatte sie Augenmaß und Selbstbeherrschung lernen müssen. Es war sinnlos, jetzt noch von Keisho-in zu erwarten, dass sie sich änderte. Reiko seufzte und las die am Boden verstreuten Speisen auf.
    »Wir sollten lieber etwas essen«, sagte sie und verteilte schmutziges Essiggemüse und mochi. »Wir müssen bei Kräften bleiben.«
    Mürrisch nahm Keisho-in die Speisen entgegen; Midori jedoch schüttelte den Kopf. »Mir ist schlecht«, sagte sie. »Ich kann nichts essen.«
    »Versuch es«, sagte Reiko. »Vielleicht fühlst du dich dann besser.«
    Als sie in bedrücktem Schweigen aßen, ließ Reiko sich durch den Kopf gehen, was vorhin geschehen war. Die fünf Entführer schienen zu der Sorte von Männern zu gehören, die mehr Kraft als Verstand besaßen. Dass sie die Speisen gebracht hatten, war der Beweis, dass sie ihre Gefangenen leben lassen wollten. Dies wiederum bedeutete, dass die Männer wiederkamen. Und beim nächsten Mal konnte Reiko sie vielleicht überlisten und fliehen.
    Doch so hoffnungsvoll dieser Gedanke sie auch stimmte – andere Überlegungen erfüllten Reiko mit banger Sorge. Arbeiteten die Männer für jemand anderen, der die Entführung befohlen hatte? Und hatte dieser Unbekannte die Absicht, sie und ihre Freundinnen zu töten, was immer der Grund dafür sein mochte? Wie viele weitere Männer waren um dieses Verlies herum in den Wäldern verteilt? Und Reikos Verstand allein konnte gegen stählerne Klingen nichts ausrichten.
    Mit einem Mal überkam Reiko eine so tiefe Verzweiflung und ein Gefühl der Hilflosigkeit, dass sie beinahe geweint hätte. Doch sie war entschlossen, ihren Entführern zu entkommen; deshalb musste sie das Beste aus der Situation machen. Reiko aß zu Ende. Dann suchte sie das Verlies nach Gegenständen ab, die sie als Waffe benutzen konnte, und schaute auch in die hölzernen Essens- und Abfalleimer. Doch ihre Bemühungen waren vergebens. Die Entführer waren zu vorsichtig, um etwas zurückzulassen, das sie in Gefahr bringen konnte. Reiko schob die Finger in die Ritzen zwischen den Bodenbrettern und versuchte, sie loszureißen, doch es brachen lediglich Späne ab. Verzweifelt schaute Reiko zur Decke.
    Als sie den Blick über die Balken schweifen ließ, kam ihr ein Gedanke, und ihre Hoffnung erwachte aufs Neue. Doch sie wusste, dass sie Hilfe brauchte, wollte sie ihren Plan in die Tat umsetzen. Sie schaute auf ihre Gefährtinnen. Ihr Blick schweifte über Midori und Keisho-in hinweg, doch beide schieden als Helferinnen aus, denn sie waren körperlich zu schwach, und Keisho-in war obendrein zu dumm. Schließlich blieb Reikos Blick auf Fürstin Yanagisawa haften. Sie wäre die geeignete Helferin – falls es gelang, sie aus ihrem Dämmerzustand zu wecken.
    Reiko kniete neben der Fürstin nieder und schaute ihr in die trüben, blicklosen Augen. »Fürstin Yanagisawa«, sagte sie, »könnt Ihr mich hören?«

8.
    I
    n einem Wachturm verborgen, der die Festungsmauer seines Anwesens im Palast zu Edo überragte, stand Kammerherr Yanagisawa am Fenster und schaute auf den Garten hinunter. Durch eine Lücke in dem sonnenbeschienenen Laubwerk konnte er ungefähr hundert Meter entfernt die Privatgemächer des Shōgun erblicken. Tokugawa Tsunayoshi lehnte auf der schattigen Veranda auf einem Stapel Kissen, während Ärzte in dunkelblauen Umhängen ihm seine Medizin einflößten. Sie redeten miteinander, und ihr ängstlicher Tonfall stieg zu Yanagisawa hinauf, der wusste, dass die Entführung seiner Mutter den Shōgun dermaßen aus dem Gleichgewicht geworfen hatte, dass er in der Nacht krank geworden war. Yanagisawa hatte selbst viele Stunden wach gelegen und darüber nachgedacht, welche Folgen dieses Verbrechen für ihn selbst nach sich ziehen könnte.
    Nun hörte er Schritte, die sich ihm über den Wehrgang näherten. Der Kammerherr schaute durch die Tür und sah Polizeikommandeur Hoshina, der auf ihn zukam.
    Hoshina betrat den Turm und stellte sich neben Yanagisawa ans Fenster. »Unsere Truppen sind einsatzbereit und können sofort aufbrechen, sobald der Rettungseinsatz beginnt«, sagte Hoshina. »Und ich habe all meinen Polizisten befohlen, überall in Edo Informationen über die Entführung zu sammeln.«
    Obwohl ihr intimes Verhältnis schon drei Jahre währte und ihn die Staatsgeschäfte sehr in Anspruch nahmen, schlug Yanagisawas Herz schneller, als der Polizeikommandeur zu ihm trat. Es war

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