Der Palast
noch warm. Reiko drückte ein Ohr auf die Brust der Fürstin und hörte schwachen, langsamen Herzschlag.
»Sie lebt«, sagte Reiko. Midori seufzte erleichtert, und Keisho-ins Gebetsgesang verstummte. Reikos Sorgen aber blieben, als sie Fürstin Yanagisawa wieder ankleidete. »Offenbar ist sie in einer Art Dämmerzustand«, sagte sie. »Wahrscheinlich kann ihr Geist nicht ertragen, was geschehen ist, und hat sich aus der wirklichen Welt zurückgezogen.«
»Wie gut sie es hat!«, sagte Keisho-in schmollend. »Sie muss keine Qualen erdulden wie wir.«
Reiko hätte niemals erwartet, Fürstin Yanagisawa einmal zu brauchen; nie hätte sie geglaubt, etwas anderes als Erleichterung zu empfinden, dass diese Frau sich in tiefer Bewusstlosigkeit befand. Doch die Fürstin hätte ihr vielleicht helfen können, sich um die Probleme Keisho-ins und Midoris zu kümmern. Bekümmert fragte sich Reiko, welche Widrigkeiten noch auf sie warteten.
Draußen, unten im Wald, waren plötzlich Geräusche zu vernehmen. Äste schnellten mit peitschendem Laut zurück, Zweige knackten, und Laub raschelte. Reiko, Midori und Keisho-in erstarrten und hielten den Atem an.
»Da kommt jemand«, wisperte Midori.
Tief unter ihnen öffnete sich knarrend eine Tür. Jemand kam die Treppe herauf. Reiko lauschte den Schritten, die unverkennbar von mehreren Männern stammten. Als das Geräusch lauter wurde, drängten die Frauen sich zusammen, kauerten verschreckt am Boden. Schließlich verstummten die Schritte vor dem Verlies. Die Frauen starrten stumm auf die Tür, gebannt vor banger Erwartung. Eisen schabte auf Eisen, als jemand auf der anderen Seite die Riegel zurückschob. Dann schwang die Tür langsam nach außen. In dem Spalt zwischen Türbrett und Wand erschien der Ausschnitt eines Männergesichts. Das eine Auge, das zu sehen war, musterte die Frauen mit einem scharfen Blick voller Feindseligkeit. Dann schwang die Tür weiter auf, und der Mann betrat den Raum, ein langes Schwert in der Hand.
Der Unbekannte war ein hoch gewachsener Samurai in den Dreißigern. Er trug einen Waffenrock, der seine bloßen, muskelbepackten Arme und Beine freiließ. Frische rote Narben verunstalteten seine Haut, und auf den Wangen und dem nachlässig rasierten Scheitel wuchsen schwarze Bart- und Haarstoppeln. Seine Miene war düster. Ihm folgten drei weitere Samurai, ebenso groß und kräftig, und genauso gekleidet und gewappnet wie der erste Mann. In dem Verlies breitete sich bedrohliche Stille aus, als die Samurai sich den Frauen näherten, die sie anstarrten wie das Kaninchen die Schlange.
Schließlich rappelte Fürstin Keisho-in sich auf und wandte sich an die Fremden. »Das wurde aber auch Zeit, dass ihr uns mit eurem Erscheinen beehrt«, sagte sie hochmütig und unerschrocken, wobei Reiko und Midori sie entgeistert anstarrten. »Darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe?«
»Seid still und setzt Euch!«, fuhr der erste Samurai sie an und hob sein Schwert.
Keisho-in kreischte auf und ließ sich zu Boden fallen. Der Samurai, offenbar der Anführer, wies mit dem Schwert auf Reiko und sagte: »Ihr da! Dort rüber in die Ecke!«
Zitternd, die Brust vor Angst wie zugeschnürt, bewegte Reiko sich auf Händen und Knien rückwärts in eine Ecke des Raumes, während der Samurai sich ihr näherte. Die Spitze seines Schwertes schimmerte nur Zentimeter vor ihrem Gesicht.
»Rührt Euch nicht«, sagte er, »oder ich schlitze Euch die Kehle auf.« Reiko vermutete, dass der Mann sie deshalb von den anderen Frauen trennte, weil sie bei dem Überfall mehrere seiner Kameraden getötet hatte und weil er sie einer Spezialbehandlung unterziehen wollte. Wahrscheinlich traute der Mann ihr nicht einmal jetzt, wo sie unbewaffnet war. Reiko blickte die stählerne Klinge entlang und in die schmalen Augen des Mannes, auf die geblähten Nasenflügel und den grausamen, bogenförmigen Mund. Der Mann warf seinen Kumpanen einen raschen Blick zu. »Gebt auf die anderen Weiber Acht!«
Zwei Männer, die Schwerter in den Händen, gingen zu Keisho-in und Midori und stellten sich neben sie. Der dritte Samurai, der Fürstin Yanagisawa bewachte, stieß sie mit dem Fuß an; als sie sich nicht rührte, entspannte sich der Mann.
»Ihr könnt jetzt hereinkommen«, rief der Anführer jemandem zu, der draußen vor dem Verlies stand.
Ein kräftiger junger Mann trat ein. Er war kein Samurai, sondern ein Gemeiner mit weichem, rundem Gesicht und den Augen eines Jungen, der begierig war auf Anerkennung. In
Weitere Kostenlose Bücher