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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
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er, dass er sich irrte und dass Reiko sich nicht in der Gewalt der Schwarzen Lotosblüte befand. Die Grausamkeit dieser Sekte war unbeschreiblich. Nur in einem konnte Sano sicher sein: Egal wer Reiko entführt hatte – je länger sie gefangen war, desto geringer wurden ihre Überlebenschancen.

7
    I m Wald vor dem Gefängnis hatte der Vogelgesang das Zirpen der nächtlichen Insekten verdrängt. Auch das Licht in den Ritzen der Fensterläden hatte die Farbe gewechselt: vom silbrigen Grau des Mondes zum zarten Rosa der Morgendämmerung. Bald darauf fielen Speere aus hellem Sonnenlicht ins Innere des Verlieses, in dem Reiko saß und beobachtete, wie das Tageslicht ihre Umgebung von Dunkelheit und Schatten befreite.
    Staubige Spinnweben zierten die rissigen, verrottenden Holzbalken. Die Decke und der Putz an den Wänden wiesen die schwarzen, rußigen Flecken eines Feuers auf, das hier vor langer Zeit gebrannt hatte. Tote Käfer und der Kot von Mäusen und Vögeln sprenkelten den Fußboden. Hoch über Fürstin Keisho-in, die sich in einer Ecke des Verlieses ausgestreckt hatte, hing ein verlassenes Vogelnest aus dünnen Zweigen. Der Gesichtspuder und das Wangenrot Keisho-ins waren verschmiert, sodass ihr Gesicht einen ungewollt komischen, bemitleidenswerten Ausdruck zeigte und die Fürstin zehn Jahre älter aussehen ließ. In der Nähe Keisho-ins lag Midori und drehte sich unbeholfen auf die Seite, die Augen geschwollen vom Weinen. Nur Fürstin Yanagisawa hatte in dieser schrecklichen Nacht geschlafen. Sie lag regungslos vor einer Wand, mit dem Rücken zu den anderen Frauen, die Beine an den Leib gezogen und die Arme vor der Brust überkreuzt.
    »Seit wir entführt wurden, ist noch nicht mal ein Tag vergangen«, sagte Reiko. Trotz ihrer eigenen Furcht musste sie den Freundinnen Mut machen. »Inzwischen hat bestimmt schon jemand die Leichen unseres Gefolges entdeckt und bemerkt, dass wir verschwunden sind. Sicher wissen die Behörden schon von dem Verbrechen und haben die Suche nach uns aufgenommen. Bald werden wir befreit.«
    Keine der Frauen erwiderte etwas. Keine von ihnen wusste, ob Reikos hoffnungsvolle Vorhersage sich erfüllen würde, oder ob die Dinge sich zum Schlimmeren entwickelten.
    »Es wird zu warm hier drin«, sagte Keisho-in und fächelte sich mit einem Ende ihrer Schärpe Luft zu. »Und ich bin so durstig, dass ich für einen Schluck Wasser einen Mord begehen würde.« Die Frauen hatten den letzten Tropfen aus dem Krug schon Stunden zuvor getrunken. »Und ich sterbe vor Hunger.«
    Auch Reikos leerer Magen knurrte. Wollten ihre Entführer sie in diesem Verlies verhungern lassen? Warum waren sie überhaupt entführt worden? Und was konnte den Mord an einhundert Menschen rechtfertigen? Reiko schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, bloße Vermutungen darüber anzustellen.
    »Hier stinkt’s«, beklagte sich Keisho-in. Der Inhalt der Eimer erfüllte den Raum mit den üblen Gerüchen von Urin, Fäkalien und Erbrochenem. »So etwas hat mir noch nie jemand zugemutet!«
    Auch Reiko nicht, der bewusst wurde, welch angenehmes Leben sie führte und wie selbstverständlich sie dieses Leben betrachtete. Der Reichtum ihres Vaters und die Ehe mit Sano hatten dafür gesorgt, dass sie ein Leben in Luxus führen konnte, umgeben von Dienern, die jederzeit für sie bereitstanden und ihr köstliche Mahlzeiten bereiteten, wann immer sie es wünschte. Jetzt hatte sie nicht einmal ein Reiskorn zu essen, und sie konnte sich nicht waschen oder ihre Kleidung säubern. Diese kleine Kostprobe der Entbehrungen, die die Armen jeden Tag erdulden mussten, beschämte Reiko.
    Dennoch dachte sie sehnsüchtig an die heimische Villa. Sie stellte sich vor, in ihrem hellen, luftigen Schlafgemach zu erwachen, in Sanos Armen, während Masahiro ins Zimmer getrippelt kam und zu ihnen unter die Bettdecke schlüpfte. Sano musste jetzt schon an der Arbeit sein; möglicherweise hatte er noch gar nicht von der Entführung erfahren. Und Masahiro war vermutlich wieder begeistert damit beschäftigt, in einer Welt, die noch immer ein großes Abenteuer für ihn war, Neues zu entdecken. Reiko blinzelte die aufsteigenden Tränen fort und gab sich einen Ruck. Sie durfte sich nicht von ihrem Kummer besiegen lassen. Sie erhob sich, umrundete das Innere ihres Gefängnisses und versuchte, aus einem der Fenster zu schauen.
    An drei Seiten des Raumes sah sie zwischen den Ritzen in den Fensterläden das Spiel von Licht und Schatten auf Kiefernästen, die von grünen

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