Der Palast
würden; er schien besorgt zu sein, ob er allein mit ihnen fertig würde.
»Ich werde dir so schnell wie möglich Hilfe schicken«, versprach Sano, dem seine Spezialeinheit plötzlich kleiner erschien als üblich; vermutlich würde er seine Ermittlertruppe so weit auseinander ziehen müssen, dass die Schwarze Lotosblüte durch die Maschen des Netzes schlüpfen könnte. »Inoue und ich werden jetzt diesen Tempel suchen«, sagte er und machte sich auf den Weg.
Das Teehaus befand sich in einer Reihe baufälliger Gebäude, die im Vergleich zum torii -Tor vor dem Schrein des Inari, des schintoistischen Reisgottes, geradezu zwergenhaft erschienen. Der Gong im Innern des Heiligtums erklang, und die Besucher strömten aus dem Tor, während Sano und Ermittler Inoue ihre Pferde an einem Pfosten in der Nähe festbanden. Es ging auf Mittag zu, und die Sonne näherte sich ihrem höchsten Punkt am Himmel. Die Schatten wurden kürzer, und streunende Hunde suchten hechelnd unter Dachvorsprüngen Schutz. Raue Stimmen wehten vom Gemüsemarkt herüber, und die heiße, unbewegte Luft stank nach faulendem Kohl. Sano und Inoue betrachteten das Teehaus aus einiger Entfernung. Mit seinem Strohdach, den Gitterfenstern und den verwitterten Bretterwänden sah es wie die tausend anderen Trinkstuben Edos aus, jedoch mit einem Unterschied: Hier war kein Anzeichen von Leben zu sehen.
Sano bedeutete Inoue, zu warten; dann ging er zu der Schiebetür, die gerade weit genug offen stand, dass man hindurchsehen konnte. Sano drückte sich gegen die Wand des Gebäudes und spähte zur Seite in ein kleines Gemach, das leer und ohne Möbel war. Im hinteren Teil erblickte Sano eine geschlossene Tür. Er winkte Inoue; dann schlüpften beide Männer ins Innere des Teehauses. Sie drückten die Ohren an die Tür und hörten hohe, leise Stimmen, die ein Gebet sangen. Sanos Herz schlug vor Aufregung schneller. Zugleich packte ihn Furcht, denn nun war er sicher, dass hinter der Tür ein Ritual der Schwarzen Lotosblüte vollzogen wurde. Er zog sein Schwert, denn er wusste, dass die Priester, Nonnen und Anhänger der Sekte erbittert kämpfen und eher sterben würden, als sich verhaften zu lassen. Sano nickte Inoue zu.
Der Ermittler schob die Tür auf, was seine ganze Kraft erforderte. Die Tür öffnete sich mit einem knarrenden Geräusch. »Keine Bewegung!«, rief Sano. »Ergebt euch, im Namen des Shōgun!«
Sano und Inoue stürmten in eine lange, schmale Kammer. Von Deckenbalken hingen erloschene Laternen. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Altartisch aus schwarzer Lackarbeit, auf dem niedergebrannte Kerzen standen. Doch der Bereich vor dem Altar, wo üblicherweise die Betenden knieten, war leer. Sano blieb stehen, senkte das Schwert und warf Inoue einen verwirrten Blick zu. Seltsamerweise war der Sprechgesang noch immer zu hören, sogar lauter als zuvor. Plötzlich entdeckte Sano ein winziges, viereckiges Loch in einer Ecke der Hintertür, in dem das Sonnenlicht leuchtete. Gemeinsam mit Inoue eilte er dorthin, riss die Tür auf und blickte hinaus.
In einer Gasse, vor einem Haus auf der anderen Straßenseite, knieten mehrere kleine Mädchen im Kreis und sangen ein Kinderlied. Sano und Inoue blickten einander an und schüttelten die Köpfe. Enttäuschung lag in Sanos Stimme, als er feststellte: »Die Sekte hat diesen Tempel aufgegeben.«
Die Schwarze Lotosblüte besaß die beinahe gespenstische Fähigkeit, eine nahende Gefahr zu spüren und rechtzeitig zu fliehen. Nun musste Sano lange, gefahrvolle Stunden mit der Jagd auf die Sekte zubringen. Und schlimmer noch, er konnte nicht wissen, ob diese Jagd ihn zu Reiko führte; er hatte nur die Aussage eines Verbrechers – und sein Gespür, das ihn aber genauso gut in die Irre führen konnte. Vielleicht hatte er sich bloß eingeredet, dass die Schwarze Lotosblüte für die Entführungen verantwortlich war, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, untätig warten zu müssen, bis der Brief der Entführer mit den Forderungen eintraf. Trotz allem hielt Sano an seiner Überzeugung fest, statt sich seine Hilflosigkeit einzugestehen.
»Wir werden die Leute in dieser Gegend fragen, wohin Höchste Weisheit und seine Anhänger verschwunden sind«, sagte er zu Inoue. »Und falls die Leute es nicht wissen oder nicht reden wollen – ich kenne mehrere Verstecke der Sekte, in denen wir suchen könnten.«
Die Überzeugung, dass er die richtige Richtung eingeschlagen hatte, gab Sano Trost. Zugleich aber hoffte
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