Der Palast
Kopf von einer Seite auf die andere. Sie keuchte und krümmte sich vor Schmerzen. Schweißperlen rannen über ihr Gesicht, das aschfahl wurde.
»Es ist alles in Ordnung. Seid ganz ruhig«, tröstete Dr. Kitano sie und strich ihr über die Stirn. Er warf Hoshina einen strengen Blick zu. »Sie kann nicht sprechen. Und jede Erinnerung an den Vorfall regt sie unnötig auf. Lasst die Frau jetzt in Ruhe. Es reicht.«
Hoshina beachtete den Einwand des Arztes nicht. Er fragte sich, warum Suiren überlebt hatte, während alle anderen aus dem Gefolge Fürstin Keisho-ins tot waren. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Seid Ihr eine Komplizin der Entführer?«, fragte er und packte Suirens Schultern. »Habt Ihr ihnen gesagt, dass Fürstin Keisho-in über die Tōkaidō reisen wird? Haben die Verbrecher Euch zur Belohnung verschont?«
Suiren stieß einen schrillen Schrei aus. Ein Ausdruck der Panik erschien auf ihrem Gesicht. Unter der Decke schlug sie um sich wie eine Motte, die sich in einem Spinnennetz verfangen hatte.
»Wenn sie sich nicht wieder beruhigt«, sagte Dr. Kitano in barschem, missbilligendem Tonfall, »wird sie sich verletzen. Lasst sie in Ruhe.«
»Wer hat Fürstin Keisho-in entführt?«, fragte Hoshina. »Wohin haben die Entführer sie gebracht? Sagt es mir!«
Suirens Lippen formten unhörbare Worte; ihre hektischen Bewegungen erlahmten. Die Pupillen rollten nach oben, und die Lider fielen zu. Das Stöhnen wich einem flachen, leisen Atmen, als die Bewusstlosigkeit sie von ihren Qualen erlöste. Hoshina, der sich seinem Ziel so nahe geglaubt hatte, verlor die Fassung und rüttelte an den Schultern der Frau.
»Wach auf!«, schrie er. »Wird’s bald!«
»Hört auf!« Dr. Kitano zog Hoshina von dem Lager weg. »Ihr tut ihr weh!«
Hoshina riss sich wütend los. »Versucht es noch einmal mit dem Moschus. Rasch!«
»Nein!«, protestierte Dr. Kitano mit dem eisernen Widerstand eines Mannes, der seinen Prinzipien um jeden Preis treu bleiben musste. »Eine Vernehmung würde ihren Tod bedeuten. Dann würde sie alles, was sie weiß, mit ins Grab nehmen.«
Keuchend vor Wut und Enttäuschung, stand Hoshina auf. Er blickte Suiren hilflos an, die reglos und schweigend auf ihrem Lager lag. Der Polizeikommandeur ballte die Hände zu Fäusten, als wollte er Suiren ihr Wissen entreißen, nahm die Niederlage vorerst aber hin, fasste sich wieder und wandte sich an Dr. Kitano. »Sorgt dafür, dass sie überlebt«, befahl er mit drohendem Unterton.
Er drehte sich zu seinen Männern um. »Bleibt hier und bewacht die Frau. Niemand darf mit ihr sprechen.« Er musste verhindern, dass Sano mit Suiren sprach und ihr Informationen über die Identität und den Aufenthaltsort der Entführer entriss. »Ich bin im Palast. Wenn sie aufwacht, gebt mir sofort Bescheid.«
Er verließ das Krankenzimmer und blieb draußen unter den Kiefern stehen. Das heiße, grelle Licht des Nachmittags schimmerte durch die Zweige. Tempelglocken hallten durch die Stadt und verkündeten den Beginn einer neuen Stunde. Ein halber Tag war vergangen, ohne dass Hoshina etwas erreicht hatte. Dieser Gedanke erschütterte seine Zuversicht, und allmählich zweifelte er an seiner Theorie, dass Suiren die Entführer kannte und ihnen geholfen hatte, das Verbrechen zu begehen. Ob sie eine Komplizin so schwer verletzt hätten? Leichtere Verletzungen hätten bereits ausgereicht, um alle glauben zu machen, dass Suiren ein unschuldiges Opfer war, das dem Tod durch viel Glück entkommen konnte. Vielleicht war Suiren tatsächlich unschuldig. Vielleicht wusste sie nicht, wer ihre Herrin entführt hatte. Doch aufgrund der Umstände wollte Hoshina seine Theorie nicht gänzlich aufgeben. Die Entführer könnten das Dienstmädchen auch versehentlich schwerer verletzt haben, als beabsichtigt – oder sie hatten vorgehabt, Suiren zu töten, damit sie die Entführer nicht verraten konnte.
Hoshina erkannte, dass all diese Fragen weitere Ermittlungen erforderlich machten. Auch wenn Suiren nicht sprechen konnte, gab es andere Möglichkeiten, um herauszufinden, ob sie tatsächlich seine beste Spur war – oder eine Sackgasse. Hoshina ging durchs Tor und den befestigten Durchgang zu den Frauengemächern. Dort wohnten die Frauen, bei denen Suiren gelebt hatte, sowie die weiblichen Palastbeamtinnen, die sie bewachten. Wenn Suiren mit den Entführern gemeinsame Sache gemacht hatte, könnten die Beamtinnen Hoshina jene Hinweise liefern, die er brauchte, ob sie nun überlebte oder
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