Der Palast
und bekam offenbar nichts mit. Sie atmete langsam durch ihre aufgesprungenen, leicht geöffneten Lippen. Hoshina runzelte besorgt die Stirn.
»Schläft sie?«, fragte er Dr. Kitano.
»Sie ist bewusstlos«, erklärte der Arzt.
Diese Nachricht bestürzte Hoshina. Er wandte sich an die Offiziere der Fernstraßen-Patrouille: »Ihr habt sie zurück nach Edo gebracht?«
»Ja, ehrenwerter Polizeikommandeur«, erwiderten die stämmigen Hauptleute mit den markanten Gesichtern, die in ihren Rüstungen schwitzten, im Chor.
»Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?«, fragte Hoshina.
»Seitdem wir sie am Tatort gefunden haben«, antwortete einer der Offiziere.
»Beschreibt mir, wie ihr sie gefunden habt«, befahl Hoshina.
»Wir haben die Leichen untersucht, um zu sehen, ob es Überlebende gab«, berichtete ein anderer Offizier. »Wir hielten die Frau für tot. Sie war blutüberströmt und rührte sich nicht.«
»Dann aber hörten wir sie stöhnen und brachten sie zur Kontrollstation in Odawara. Der Arzt dort hat sie behandelt«, erklärte der erste Offizier. »Er warnte uns, dass sie für einen Transport zu krank sei, aber unsere Vorgesetzten haben uns befohlen, die Frau nach Edo zu bringen. Wir hatten Angst, sie würde unterwegs sterben.«
Hoshina hatte gehofft, durch eine schnelle und problemlose Befragung der Zeugin die Identität der Entführer von Fürstin Keisho-in herauszufinden. Enttäuscht wandte er sich an Dr. Kitano. »Woran leidet sie genau?«
»Ich war gerade dabei, sie zu untersuchen.«
Dr. Kitano wickelte vorsichtig den Verband von Suirens Kopf und entblößte das Haar, das rings um eine lange, gezackte, purpurrote Wunde über der rechten Schläfe abgeschnitten war. Mit besorgter Miene bedeckte er die Wunde, entfernte das Tuch, unter dem Suiren lag, und öffnete den weißen Baumwollkimono, den sie trug. Auf ihrem Unterleib lag ein weißer Verband. Dr. Kitano entfernte ihn. Eine klaffende Wunde wurde sichtbar, die sich von der unteren linken Seite ihres Brustkorbs bis zu ihrem Bauchnabel hinzog. Die Wunde, die mit getrocknetem Blut bedeckt und mit Pferdehaar zusammengenäht war, sonderte eine gelbliche Flüssigkeit ab. Hoshina zuckte zusammen. Dr. Kitanos Miene verdunkelte sich. Suiren regte sich nicht.
»Das ist ein sehr tiefer Schwertstich«, sagte der Arzt. »Die Kopfwunde gibt ebenfalls Grund zur Sorge.«
Dr. Kitano tastete die Haut rings um Suirens tief liegende Augen ab, hob die Augenlider und starrte in die trüben, ausdruckslosen Pupillen, wie es bei den chinesischen Ärzten seit Urzeiten Brauch war. Mit den Fingern strich er über ihre Wangen und ihr trockenes, sprödes Haar und kniff in ihren Nacken. Er öffnete ihren Mund, betrachtete den blassen Gaumen und die weiße Zunge und schnupperte an ihrem Atem. Schließlich umfasste er ein Handgelenk und dann das andere. Das Tamburin der Zauberer markierte die lange Zeitspanne, während derer Dr. Kitano den Pulsschlag der Kranken fühlte, der mit den unterschiedlichen inneren Organen in Verbindung stand. Als er fertig war, deckte er die Verwundete wieder zu und sah Hoshina besorgt an.
»Sie hat sehr viel Blut, Flüssigkeit und ki – Lebenskraft – verloren«, erklärte Dr. Kitano. »Außerdem leidet sie an inneren Entzündungen und eiternden Wunden.«
»Könnt Ihr sie heilen?«, fragte Hoshina.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Dr. Kitano, »aber es wäre ein Wunder, wenn sie überlebt.«
Hoshina stützte den Kopf in die Hände und dachte über Suiren nach, während das Tamburin erklang und die Priester sangen. Eine Aussage der Leibdienerin würde die Möglichkeit eröffnen, Fürstin Keisho-in zu retten; außerdem würde es die Stellung Kammerherrn Yanagisawas bei Hofe so lange festigen, bis der Shōgun dessen Sohn Yoritomo offiziell als seinen Erben benannt hatte. Aber Hoshinas Wunsch, Suiren möge wieder gesunden, hatte auch persönliche Gründe. Wenn er von ihr einen Hinweis erhalten könnte, der zu den Entführern führte, würde er die Achtung und Dankbarkeit des Shōgun gewinnen. Der bakufu müsste ihm als erfolgreichem Polizeikommandeur Beachtung schenken, nicht nur als Yanagisawas Liebhaber. Und Yanagisawa müsste ihm den Respekt zollen, nach dem Hoshina sich sehnte, anstatt ihn immer wieder zu erniedrigen.
»Ich muss Suiren Fragen über die Entführung stellen«, wandte Hoshina sich an Dr. Kitano. »Weckt sie auf!«
Besorgnis verdunkelte den Blick des Arztes. »Es ist nicht ratsam, sie zu wecken. Sie braucht
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