Der Palast
fast um vor Hunger, denn sie hatten einen ganzen Tag lang nichts mehr gegessen. Der Gestank der Abfallkübel wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher. »Und du, Midori -san ? Du sitzt hier herum wie eine Wachtel, die gleich ein Ei legt. Ich weiß gar nicht, warum ich dich mit auf die Reise genommen habe.«
»Es tut mir Leid«, murmelte Midori verschüchtert.
Dann ließ die Mutter des Shōgun ihre Wut an Fürstin Yanagisawa aus. »Und Ihr seid auch zu nichts nutze!« Keisho-ins blutunterlaufene Augen funkelten wütend. »Ihr solltet doch gegen die Männer kämpfen, sobald sie hierher kommen. Warum habt Ihr es nicht getan?«
Fürstin Yanagisawa kauerte mit kläglicher Miene beschämt in der Ecke. Reiko hatte von den Frauen erfahren, dass die Wachen kurz nach ihrer Flucht in das Gefängnis gestürmt waren. Sie hatten ihre bewusstlosen, gefesselten Komplizen gefunden und sofort festgestellt, dass Reiko verschwunden war. Dann hatten die Männer Fürstin Yanagisawa, die sich unterwürfig in ihr Schicksal ergeben hatte, das Schwert weggenommen. Die Frauen waren mit Flüchen und Bedrohungen überhäuft und mit Fragen nach Reikos Verbleib bombardiert worden.
»Ich hatte Angst …«, flüsterte Fürstin Yanagisawa, die verzweifelt die Hände rang. »Es tut mir Leid.« Sie blickte Reiko flehend an. »Könnt Ihr mir verzeihen?«
»Es gibt nichts zu verzeihen.« Reiko klopfte ihr auf die Schulter. »Es war richtig, dass Ihr Euch ergeben habt. Ein Kampf hätte noch mehr Unheil angerichtet.« In Wahrheit war Reiko bestürzt über die Schwäche Fürstin Yanagisawas, vor allem aber war sie froh, dass die Entführer ihren Freundinnen nichts angetan hatten.
»Wenn ich das nächste Mal eine Reise mache, nehme ich keine von euch mit«, verkündete Keisho-in. »Ich werde starke, mutige Männer mitnehmen, die mir helfen, wenn ich in Schwierigkeiten gerate, anstatt mich in Schwierigkeiten zu bringen!«
Reiko, Midori und Fürstin Yanagisawa schwiegen und senkten die Blicke. Sie dachten daran, dass keine von ihnen den Wunsch gehabt hatte, Keisho-in auf dieser Pilgerfahrt zu begleiten; sie alle wären lieber zu Hause geblieben. Keine von ihnen wagte es, Fürstin Keisho-in daran zu erinnern, dass die Entführer ihre mutige Begleittruppe und die treuen Bediensteten niedergemetzelt hatten und dass es vielleicht nie mehr eine Reise für sie geben würde. Außerdem hatte Keisho-in dem Plan Reikos eifrig zugestimmt, ehe er gescheitert war, sodass sie keinen Grund hatte, irgendjemandem vorzuwerfen, ein unnötiges Risiko eingegangen zu sein. Vor allem verbesserte es ihre missliche Lage nicht, wenn Keisho-in nun ihre Wut an den anderen ausließ.
»Ich finde, Ihr macht alles nur noch schlimmer.« Keisho-in verschränkte ihre drallen Arme, verzog schmollend den Mund und starrte Reiko an.
Reiko schwieg, bedrückt und wütend zugleich. Sie hörte die leisen Gespräche der Wachen, die nun vor der Tür Posten bezogen hatten. Schritte und Bewegungen in den unteren Geschossen ließen darauf schließen, dass sich jetzt Männer dort aufhielten. Selbst wenn es ihr gelingen würde, das Gefängnis noch einmal zu verlassen, würde sie es nicht schaffen, sich an den Wachen vorbeizuschleichen.
Reiko streckte die Beine und schaute betrübt auf ihre nackten Füße. Die Wachen hatten ihr und den anderen Frauen die Schuhe und Strümpfe weggenommen. Selbst wenn es ihr, Reiko, gelang, aus dem Gefängnis zu fliehen, ein Boot zu entdecken und den See zu überqueren – wie weit käme sie barfuß, ehe die Entführer sie einholten?
Reiko bedauerte, dass sich die Chance, die Freiheit zu erlangen, durch ihren Fluchtversuch erheblich verschlechtert hatte. Doch sie hatte etwas unternehmen müssen. Untätigkeit half ihnen auch nicht weiter.
Doch sie war gescheitert. Und wenn es ihr nicht gelang, sich selbst und die anderen Frauen zu retten, wem dann?
Die Fabrik, in der Naraya, der Hersteller und Händler von Sojasauce, seine Ware herstellte, befand sich im Stadtviertel Kanda, nördlich vom Palast zu Edo. Zu der Fabrik gehörten ein Gebäude mit einem Geschäft auf der Vorderseite und ein Wohnhaus auf der anderen Seite eines Kanals mit zahllosen Hausbooten und regem Bootsverkehr. Die dicht besiedelten Wohnviertel auf beiden Seiten des Kanals waren durch Brücken miteinander verbunden.
Sano, der mit vier Ermittlern zu Naraya ritt, roch dessen Fabrik, noch ehe er sie sah. Der kräftige, salzige Geruch der Sojasauce lag in der warmen Luft. Vor dem Laden stiegen die
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