Der Palast
prüfend. War Naraya der geheimnisvolle Drachenkönig? Sano hätte sich gern der Hoffnung hingegeben, dass dieser Mann ihm Reiko zurückbringen könnte. Doch es gab noch andere Verdächtige; er durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
»Sagt mir, wie ich Euch helfen kann«, bat Naraya und breitete die Arme aus. »Sagt mir, was Ihr wünscht, und meine Hilfe wird Euch gewährt.«
War dieses Angebot ehrlich gemeint, oder war der Händler tatsächlich nur ein guter Schauspieler? Eigentlich war Naraya ein zu gewöhnlicher Mann, als dass er der rätselhafte Drachenkönig sein konnte, der in Sanos Vorstellung einem Ungeheuer glich. Doch ein erfolgreicher Händler, der sich darauf verstand, seine Arbeiter anzutreiben und mit Kunden zu feilschen, war fast so bühnentauglich wie viele Kabuki-Darsteller.
»Erzählt mir von Euren Beziehungen zu Polizeikommandeur Hoshina«, forderte Sano den Händler auf.
Naraya fuhr zusammen, als er Hoshinas Namen hörte; sein Lächeln erlosch. »Ihr scheint bereits zu wissen, dass es zwischen uns nicht zum Besten steht«, erwiderte Naraya, dessen Wachsamkeit geweckt war. »Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell. Ich bin zwar aus Miyako weggegangen und hierher nach Edo gekommen – wie auch Hoshina -san –, aber die Vergangenheit kann man nicht einfach zurücklassen.«
»Ich habe gehört, dass Ihr Hoshina die Schuld am Tod Eurer Tochter gebt.«
Der Händler zögerte. Sano spürte, dass Naraya dieses Thema gern vermieden hätte, und er merkte ihm die Angst an, den Schmerz über den Verlust seiner Tochter wieder aufleben zu lassen. Andererseits schien der Fabrikant das Bedürfnis zu haben, über seine Feindschaft mit Hoshina zu sprechen.
Dieses Bedürfnis gewann schließlich die Oberhand. »Es war seine Schuld!«, brach es aus Naraya hervor. »Meine Emiko war mein einziges Kind – ein süßes, unschuldiges, harmloses Mädchen. Hoshina -san hat sie aus selbstsüchtigen Motiven vernichtet!«
Die Wangen gerötet, beugte Naraya sich erregt zu Sano vor, um seine Wut zu rechtfertigen. »Emiko war erst fünfzehn Jahre alt! Sie liebte schöne Kleider, aber ich konnte ihr keine kaufen, denn damals war ich nicht so wohlhabend wie heute.« Trauer und Schuldgefühle schwangen in Narayas Stimme mit. »Eines Tages sah Emiko einen hübschen roten Kimono in einem Geschäft. Sie ging hinein, riss ihn an sich und rannte davon.«
Das also war der Diebstahl, von dem Hoshina gesprochen hatte, überlegte Sano. Dabei handelte es sich um kein schweres Verbrechen, sondern um die Dummheit eines jungen Mädchens.
»Aber Emiko war keine Diebin!«, fuhr Naraya fort, den die Überzeugung, seine Tochter sei unschuldig gewesen, zu leidenschaftlichen Worten hinriss. »Sie hätte schnell eingesehen, dass sie Unrecht getan hatte, und den Kimono zurückgebracht. Unglücklicherweise ritt gerade Hoshina -san durch die Straße. Er sah Emiko, die den Kimono an sich gedrückt hielt und davonlief. Hoshina jagte Emiko hinterher, packte sie und brachte sie zu dem Geschäft zurück. Der Ladenbesitzer erkannte den Kimono als den seinen wieder. Daraufhin verhaftete Hoshina meine Emiko und warf sie ins Gefängnis!«
Narayas Stimme bebte vor Zorn. »Als ich hörte, was geschehen war, ging ich zur Polizeiwache. Dort sah ich Hoshina -san zum ersten Mal. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass Emiko nur einen Fehler gemacht hatte. Doch Hoshina sagte, sie sei eine Verbrecherin und müsse als Strafe im Vergnügungsviertel als Kurtisane arbeiten.«
Wenn Frauen wegen Diebstahls verurteilt wurden, bestand die Strafe zumeist darin, dass sie als Prostituierte arbeiten mussten – meist für den Rest ihres Lebens.
»Ich bot Hoshina -san Geld an, damit er meine Tochter freiließ, aber er lehnte ab, obwohl die Polizei normalerweise Bestechungsgelder annimmt, wenn es sich um kleinere Vergehen handelt.« Naraya blinzelte durch seinen Tränenschleier der Empörung. »Später erfuhr ich, dass Hoshina- san gerade zum Polizeikommandeur befördert worden war und jedem zeigen wollte, wie entschlossen er durchgriff. Er wollte auf Emikos Kosten ein Exempel statuieren – als Warnung für andere mögliche Diebinnen.«
Das hörte sich ganz nach Hoshina an, und Sano verabscheute diesen Mann nun umso mehr. Sano hatte die Entscheidung, seinen Feind Hoshina zu beschützen, nach reiflicher Überlegung bereits in Zweifel gezogen. Er fragte sich, ob er Reikos Leben wirklich retten könnte, wenn er Hoshinas Tod verhinderte. Wäre es nicht besser gewesen,
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