Der Palast
humorlos. »Ich hoffe, Ihr habt viel Zeit mitgebracht, denn es könnte eine Weile dauern.«
»Ich habe Zeit genug.« Sano bat die Wachen, ihm Papier und Schreibzeug zu bringen. Anschließend schrieb er auf, was Hoshina berichtete. Der Zeitraum umfasste sechzehn Jahre, in denen achtunddreißig Männer durch Hoshinas Schwert gestorben waren – beispielsweise bei dem Versuch, Verdächtige zu verhaften oder die Ordnung wiederherzustellen. An einige Namen konnte Hoshina sich nicht mehr erinnern, und auch die Informationen über Familienangehörige und Verbündete waren spärlich.
»Mehr Informationen kann ich nicht liefern«, sagte Hoshina schließlich.
Sano sah sich die Liste an und sagte: »Die Männer, die Ihr getötet habt, waren Ganoven, kleine Diebe und Schläger. Es waren Handwerker, kleine Händler und mehrere rōnin, von denen keiner ein reicher Mann gewesen ist. Und alle gehörten den niederen Schichten an.«
»Das sind nun mal Verbrecher von der Sorte, die mich und meine Untergebenen bei der Polizei auf Trab halten«, sagte Hoshina. »Der Abschaum der Gesellschaft.«
Sano war entmutigt. »Es ist eher unwahrscheinlich, dass diese Leute Freunde oder Verwandte haben, die fähig wären, ein Massaker wie das auf der Tōkaidō zu begehen und die Frauen zu entführen.«
»Außerdem würden Leute dieses Schlages mich auf offener Straße angreifen, wenn sie Rache an mir üben wollten. Und sie würden nicht Jahre warten, mich zu töten«, sagte Hoshina. »Außerdem würden sie keinen so komplizierten und gefährlichen Anschlag verüben. Über eine derartige Intelligenz verfügen sie nicht. Und die meisten hätten auch nicht den Mut, den man für eine solche Tat aufbringen muss … ganz zu schweigen von den Truppen, die sie benötigen würden.«
Hoshina hatte Recht. In Sano stiegen Zweifel auf, dass die Liste ihn zu den Entführern führen würde. »Alle Männer, die Ihr getötet habt, waren Bürger von Miyako«, stellte er fest. Die alte Kaiserstadt lag fünfzehn Tagesritte von Edo entfernt.
»Ja. Wie Ihr wisst, habe ich bis vor drei Jahren in Miyako gelebt«, sagte Hoshina. »Und ich habe dort den größten Teil meines Polizeidienstes verrichtet.«
Sano musste herausfinden, ob einer der Männer, die Hoshina getötet hatte, Verbindungen zu jemanden in Edo besaß, der von Fürstin Keisho-ins Reise gehört und die Entführung organisiert haben könnte. Er rechnete mit einer langen und vielleicht erfolglosen Suche.
»In Edo habt Ihr niemanden getötet?«, fragte der sōsakan-sama.
»Es gab keinen Grund«, erwiderte Hoshina. »Als Polizeikommandeur jage ich keine Verbrecher mehr in den Straßen.«
Sonnenstrahlen stachen durch die Wolkendecke und fielen durch die Fenster ins Turmzimmer. Im Raum war es stickig heiß. An den Wänden hatte sich Schimmel gebildet. Sano erhob sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er dachte an Reiko, die irgendwo gefangen gehalten wurde und vermutlich schlimmere Bedingungen als Hoshina ertragen musste. Er dachte an die unbekannten Entführer, die auf Hoshinas Hinrichtung warteten und bereit waren, Reiko, Keisho-in, Midori und Fürstin Yanagisawa zu töten. Angst stieg in Sano auf, denn bisher hatten er und Hoshina keinen einzigen Verdächtigen gefunden, der ins Bild gepasst hätte.
»Vielleicht beziehen sich die Forderungen der Entführer nicht auf einen Mord, den Ihr selbst verübt habt«, überlegte Sano. »Hat es Verbrecher gegeben, die Ihr verhaftet habt und die später verurteilt und hingerichtet wurden?«
Sano erstellte nach Hoshinas Angaben eine zweite Liste mit Namen, die länger war als die erste und die ihn vor dieselben Probleme stellte. Alle hingerichteten Verbrecher gehörten unteren Klassen an und waren Bewohner Miyakos. Ein Polizeikommandeur verhaftete Verbrecher nicht persönlich, und Hoshina hatte niemanden zum Richtplatz geführt, seit er nach Edo gekommen war. Und keiner der Verbrecher, für deren Hinrichtung Hoshina verantwortlich gewesen war, hatte Verbindungen zu einer Person, die reich und mächtig genug war, um für das Gemetzel und die Entführung verantwortlich zu sein.
Sano versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er lehnte sich gegen die Wand und musterte Hoshina, der ihm einen kläglichen Blick zuwarf.
»Fällt Euch jemand ein, an dessen Tod Ihr nicht die Schuld tragt, aber für den man Euch die Verantwortung geben könnte?«, fragte Sano.
Hoshina schüttelte den Kopf, zuckte dann aber jäh zusammen, als er sich an
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