Der Palast
eine andere Erfolg versprechende Spur zum Drachenkönig, die Sano in der Aufregung, die der Erpressungsbrief verursacht hatte, übersehen hatte …
»Kommt, wir reiten zurück zum Palast«, sagte Sano, nahm die Zügel auf und galoppierte die Straße hinunter, während seine beiden Ermittler sich beeilten, um ihn einzuholen.
17
D er Sturm auf der Insel ließ nach. Leichter Nieselregen drang durch das beschädigte Dach des Verlieses. Inmitten der Pfützen drängten Reiko, Midori, Fürstin Yanagisawa und Keisho-in sich in der feuchten Dunkelheit der Zelle zusammen und starrten auf die Tür, die in diesem Augenblick aufgerissen wurde. Der finster aussehende Samurai, der Reiko beinahe vergewaltigt hätte, betrat das Gefängnis. Ihm folgten zwei jüngere Samurai, deren abgetragene Kleidung und mürrische Mienen sie als r ō nin zu erkennen gaben – herrenlose Samurai.
»Ihr da«, sagte der Anführer und zeigte mit dem Finger auf Reiko. »Kommt mit.«
Reiko wurde von Panik erfasst. »Warum?«, fragte sie mit bebender Stimme.
In den Stunden, die auf ihren gescheiterten Fluchtversuch gefolgt waren, hatte Reiko sich immer wieder ausgemalt, was die Entführer ihr und ihren Freundinnen antun würden. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass die Entführer sie nicht für alle Ewigkeit in diesem Verlies gefangen halten würden; sie mussten andere Pläne haben. Reiko hatte das Gefühl, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Und jetzt schien der Zeitpunkt gekommen zu sein.
»Keine Widerworte«, befahl der grimmige Samurai und starrte Reiko düster an. »Tut, was ich Euch befehle.«
Midori wimmerte kläglich, und Fürstin Yanagisawa stieß einen seltsamen Laut aus, der an das Fauchen einer Katze erinnerte. Reiko spürte, wie die beiden Frauen ihre Hände fassten und versuchten, sie festzuhalten.
»Sie bleibt hier!«, schrie nun auch Keisho-in, mutig und verzweifelt zugleich. »Verschwindet! Lasst uns allein!«
Der Samurai grinste höhnisch und nickte seinen Komplizen zu. Sie packten Reiko und rissen sie hoch.
»Reiko -san …«, jammerte Midori.
Fürstin Yanagisawa stieß unverständliche Protestlaute aus. Keisho-in rief: »Lasst sie los, ihr widerwärtigen Mistkerle!«
Als die Männer Reiko brutal zur Tür zerrten, warf sie einen Blick zurück auf ihre Freundinnen, auf deren Gesichtern sich nacktes Entsetzen spiegelte. Sie alle hatten Angst, Reiko und damit jede Hoffnung auf Rettung zu verlieren.
»Ich komme zurück«, versprach Reiko ihnen mit vorgetäuschter Zuversicht. »Sorgt euch nicht.«
Vor der Tür kauerten zwei finstere, brutal aussehende Bandenmitglieder. Sie blickten Reiko lüstern an, als ihre Kumpane sie zur Treppe drängten. Einer der jüngeren Männer ging voraus. Der Anführer stellte sich hinter Reiko, umklammerte ihre Schultern und zwang sie, die Stufen hinunterzusteigen. Der dritte Mann folgte ihnen. Holzsplitter bohrten sich in Reikos nackte Füße. In den unteren Geschossen des Turms lungerten ebenfalls Männer herum, die Tabakpfeifen rauchten. Als Reiko und ihre Begleiter sich der Tür näherten, packte der Anführer der Samurai ihren rechten Arm, während einer seiner Komplizen ihren linken Arm umklammerte. Die anderen standen dicht hinter ihr. Reiko spürte die Spitze eines Schwertes auf ihrem Rücken. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und Übelkeit stieg in ihr auf.
Wohin brachten die Männer sie? Wollten sie nun zu Ende führen, was ihr Anführer begonnen hatte?
Die Männer schleppten sie aus dem Verlies. Der bewölkte Himmel verdunkelte den Nachmittag. Regentropfen nässten Reikos Gesicht. Der Treppenabsatz unter ihren nackten Füßen war kalt und glatt. Die Männer führten sie an Wachen vorbei, die auf den Treppen lungerten, und über einen schmalen Pfad durch den Wald. Drei weitere Samurai schlossen sich der Gruppe an. Von den Bäumen tropfte Regen. Die Luft war feucht und roch nach Lehm und vermoderten Blättern. Reiko spürte kaum noch die Stiche der spitzen Äste in ihren Fußsohlen, denn ein schrecklicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
Die Entführer hatten vor, ihre Opfer zu töten!
Und sie sollte als Erste sterben.
Reiko schnappte nach Luft und kämpfte gegen die Angst an. Sie sehnte sich nach Sano, doch seit der Entführung waren schon drei Tage verstrichen, und bisher war er nicht erschienen. Und nun würde er keine Chance mehr haben, sie zu retten …
Plötzlich trat die Gruppe aus dem Wald. Der Pfad führte nun am See entlang, einem trüben, silbernen Spiegel des
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