Der Palast
Naraya. »Ich habe niemanden entführt. Ich schwöre es bei der Ehre meiner Ahnen!«
»Was habt Ihr mit meiner Gemahlin gemacht?« Normalerweise hasste es Sano, Gewalt anzuwenden. In diesem Fall hatte er zwei Möglichkeiten: Er könnte freundlich zu dem Händler sein und die Fabrik mit leeren Händen verlassen. Oder er setzte Naraya unter Druck und presste die Wahrheit aus ihm heraus. Sano ließ seine Wut über das erfolglose Verhör an Naraya aus. »Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht!« Naraya prallte mit dem Kopf gegen die Mauer. »Ihr tut mir weh! Lasst mich los!«
»Erst wenn Ihr redet.« Sano packte die Schultern des Händlers und schüttelte ihn. »Wird’s bald?«
Naraya zerrte an Sanos Händen und versuchte vergeblich, sich zu befreien. Er wand sich und trat Sano gegen das Schienbein. »Hilfe!«, schrie er. »Hilfe!«
»Sagt es mir!«, befahl Sano.
Plötzlich kamen mit Paddeln, Knüppeln und Eisenschaufeln bewaffnete Arbeiter aus der Fabrik gestürmt, bereit, Naraya zu verteidigen. Die Ermittler zogen ihre Schwerter.
»Ich bin unschuldig«, schrie Naraya. »Foltert mich, bis ich gestehe, und dann tötet mich, aber das bringt Euch die Frauen nicht zurück, weil ich sie nicht entführt habe! Ich weiß nicht, wo sie sind!«
Ein Blick in Narayas angstverzerrtes Gesicht und die Gefahr einer bevorstehenden bewaffneten Auseinandersetzung mit den Arbeitern brachten Sano zur Besinnung. Er begriff, dass er zu weit gegangen war. Wenn er Naraya verprügelte, würde das Reiko auch nicht helfen, selbst wenn der Mann der Drachenkönig war.
Sano ließ den Händler los. Naraya sank auf die schmutzige Erde.
»Geht zurück an die Arbeit«, befahl Sano den Arbeitern.
Die Männer folgten dem Befehl, und die Ermittler steckten die Schwerter zurück in die Scheiden. Sano lehnte sich erschöpft gegen die Mauer. In seine Erschöpfung mischte sich das Entsetzen über seinen gewalttätigen Ausbruch.
Verzweiflung überkam ihn. Sein Leben hatte sich in einen Albtraum verwandelt. Er hatte das Gefühl, als müsste er seine Ermittlungen bis in alle Ewigkeit fortsetzen, ohne Reiko jemals zu finden. Sano musterte den Mann, den er beinahe getötet hätte. Naraya hatte sich aufgesetzt, lehnte mit geschlossenen Augen an der Mauer und streckte stöhnend die Glieder. Blut aus einer Kopfwunde befleckte die Mauersteine.
»Ist Euch etwas geschehen?«, fragte Sano besorgt. Es beschämte ihn zutiefst, dass er Naraya verprügelt hatte.
Naraya öffnete die Augen. »Ich bin Euch nicht gerade dankbar«, erwiderte er mit einem matten Lächeln, »aber böse bin ich Euch auch nicht. Ich kann verstehen, dass Ihr aufgebracht seid, weil ich weiß, wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Und ich möchte Euch wirklich helfen.« Vor Schmerzen stöhnend, erhob er sich und fragte schüchtern: »Darf ich Euch einen Vorschlag machen?«
»Nur zu«, sagte Sano, der jetzt sicher war, dass Naraya nicht der Drachenkönig sein konnte. Deshalb brauchte er alle Hinweise, die er bekommen konnte – sogar von einem Verdächtigen.
»Wenn Ihr den Entführer wirklich finden wollt«, begann Naraya, »solltet Ihr mich in Ruhe lassen und Euch die anderen Personen ansehen, die Hoshina -san sich zu Feinden gemacht hat. Er hat sich in und um Miyako sehr unbeliebt gemacht. Vielleicht dürsten seine anderen alten Feinde nach Rache. Vielleicht haben sie die Mutter des Shōgun entführt und Hoshina-san die Tat dann in die Schuhe geschoben.«
»Und vielleicht versucht Ihr nur, Euer eigenes Verbrechen zu vertuschen, indem Ihr den Verdacht auf andere lenkt«, sagte Sano, obwohl er einsah, dass er dem Vorschlag des Händlers folgen musste, wenn er keine Beweise gegen ihn fand.
»Ich will dem Shōgun doch nur helfen und verhindern, dass Ihr einen großen Fehler macht!«, beteuerte Naraya. »Darf ich Euch sagen, wo Ihr den Entführer meiner Meinung nach suchen solltet?«
Durch sein Schweigen deutete Sano seine Zustimmung an.
»Ihr solltet die Anhänger der Schwarzen Lotosblüte unter die Lupe nehmen«, sagte Naraya.
»Die Schwarze Lotosblüte?« Sano zog die Stirn in Falten. Es verwirrte ihn, dass die Sekte nun wieder zur Sprache gebracht wurde, nachdem er die Ermittlungen gerade erst in eine andere Richtung gelenkt hatte. Er musterte Naraya skeptisch und fragte sich, ob der Händler lediglich versuchte, die Schuld auf die berüchtigte Sekte zu lenken. »Was veranlasst Euch zu dieser Behauptung?«
Naraya schaute sich um, als befürchtete er, es könnten sich
Weitere Kostenlose Bücher