Der Palast
ermorden?
Mit dem ihm eigenen stolzen, bedächtigen Gang schritt er weiter auf Reiko zu. Der Weihrauchgeruch wurde mit jedem seiner Schritte stärker, als wäre der Duft in seine Haut und seine Kleider eingedrungen. »Wie heißt Ihr?«, fragte er schließlich, ohne Reiko aus den Augen zu lassen.
Reiko wollte ihm ihren Namen nicht nennen, fürchtete sich jedoch vor seiner Reaktion, wenn sie ihm nicht antwortete. Sie öffnete den Mund, aber kein Laut drang über ihre Lippen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie schluckte und versuchte es erneut. »Reiko«, flüsterte sie schließlich.
Der Name erregte sein Missfallen. »Dieser Name passt nicht zu Euch. Ich werde Euch … Anemone nennen.« Er betonte jede Silbe und genoss den Klang des Namens.
Reiko hoffte, nicht so lange hier bleiben zu müssen, dass ein Name von Bedeutung sein könnte. Andererseits hatte der Mann offenbar nicht die Absicht, sie zu töten, sonst hätte er sich nicht die Mühe gemacht, ihr einen neuen Namen zu geben. Dieser Gedanke entfachte ihren Mut. »Wer seid Ihr?«, fragte sie kühn.
Er runzelte erstaunt die Augenbrauen, als müsste Reiko ihn kennen. Nach einem Moment des Zögerns antwortete er: »Ihr könnt mich ›Drachenkönig‹ nennen.«
Reiko fragte sich verwirrt, warum er den Namen des legendären Ungeheuers angenommen hatte. Und weshalb verriet er ihr nicht seinen richtigen Namen?
Ein verstohlenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ja, ich bin der Drachenkönig, der über die Untaten böser Menschen richtet und die kosmischen Kräfte im Gleichgewicht hält.«
Reiko wusste nicht, was er damit meinte. »Wo bin ich?«, fragte sie.
»Ihr seid bei mir, wo Ihr hingehört.«
Er ging im Kreis um sie herum. Reiko drehte sich mit, ließ den Drachenkönig nicht aus den Augen. Die Angst vor einem Angriff schärfte ihre Sinne. Wenn sie sterben sollte, würde sie sich nicht kampflos ergeben. Außerdem wollte sie zuvor Antworten auf ihre Fragen. »Und wo steht dieser Palast?«
»Ein Mitglied meines Klans hat ihn als Sommerresidenz erbauen lassen. Er war General während des Bürgerkrieges vor über hundert Jahren. Eines Tages wurde er hier von feindlichen Truppen angegriffen. Sie feuerten von Flößen auf dem See mit Kanonen, Geschützen und brennenden Pfeilen. Der Palast geriet in Brand, und der Feind griff an. Obwohl mein Ahnherr mutig kämpfte, war er dem Untergang geweiht. Er beging seppuku, um der unwürdigen Gefangenschaft zu entgehen.«
Reiko erstarrte zu Eis, als sie an den blutbefleckten Korridor dachte.
»Aber die Vergangenheit betrifft uns nicht, Anemone«, fuhr der Drachenkönig fort. »Alles, was zählt, ist das Glück, das uns wieder zusammengeführt hat.«
Auch heute verhielt der Mann sich, als würden sie sich kennen, doch Reiko war sich ganz sicher, diesem Fremden noch nie im Leben begegnet zu sein. Welche Rolle, glaubte er, hatte das Schicksal bei ihrer Entführung gespielt? Und warum bestand er darauf, sie Anemone zu nennen? Welche Bedeutung hatte dieser Name für ihn?
»Ich sollte wohl nicht erwarten, dass Ihr mich wiedererkennt«, sagte er reumütig. »Als wir das letzte Mal zusammen waren, war ich noch ein Junge. Aber ich habe Euch auf Anhieb wiedererkannt. Ihr seid so jung und so schön wie damals«, schwärmte er ehrfürchtig und mit verschleiertem Blick. »Ihr seht genauso aus wie in all meinen Träumen seit jener Nacht, als ich Euch verloren habe.«
Reiko vermutete, dass sie einer Frau ähnelte, die dieser Mann einst gekannt hatte. Könnte das der Grund für die Entführung sein? Der Gedanke, dass ein Missverständnis hundert Menschen in den Tod gerissen hatte, entsetzte sie. Dabei schien auch der Mann überrascht gewesen zu sein, sie zu sehen, als sie sich nach ihrem Fluchtversuch begegnet waren. Und warum hätte er die anderen Frauen entführen sollen, wenn er es nur auf sie, Reiko, abgesehen hatte?
Der Drachenkönig blickte gekränkt drein. »Warum sagt Ihr nichts?«, fragte er. »Habt Ihr mir nach all den Jahren der Trennung nichts zu sagen?«
»Werdet Ihr mich töten?«, stieß Reiko hervor.
Der Drachenkönig neigte den Kopf zur Seite, schlug die rechte Faust in seine linke Hand und betrachtete sie eine Zeit lang, während Reiko ungeduldig wartete und sein wechselndes Mienenspiel beobachtete, das sie nicht deuten konnte. »Ich hoffe nicht«, erwiderte er schließlich.
Reikos kurzzeitige Erleichterung wich tiefer Verwirrung, als der Drachenkönig beide Hände nach ihr ausstreckte, als wollte er sie an
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