Der Palast
Himmels, umgeben von finsterem Wald und im Nebel verschwommenen Bergen am jenseitigen Ufer. Wollten die Entführer sie ertränken?
Verzweifelt und voller Trauer dachte Reiko an Masahiro, der niemals erfahren würde, warum seine Mutter nicht nach Hause zurückgekehrt war. Sie war wie gelähmt. Ihre Panik steigerte sich ins Unerträgliche, und sie taumelte und stolperte. Die Männer fingen sie auf und trugen sie an einem baufälligen Steg vorbei, der ins Wasser ragte. Reiko entdeckte drei Boote, die an Pfählen festgemacht waren. Es waren einfache Holzboote, in denen Ruder lagen.
Mit einem Mal wurde Reikos Wille zu überleben stärker als ihre Angst vor dem Tod. Ihre Lebensgeister erwachten. Jetzt wusste sie, dass es eine Möglichkeit gab, den See zu überqueren, wenn sie auch nicht wusste, wie sie jemals unbemerkt zu den Booten gelangen könnte.
Der mürrische Anführer der Samurai zerrte sie an den Booten vorbei. Er schien ihre Gedanken zu erraten und grinste spöttisch.
Zu ihrer Rechten erschien ein Gebäude, bei dem es sich um den Palast handeln musste. Ein mit Steinplatten ausgelegter Platz und eine baufällige Mauer mit verfallenen Wachtürmen grenzten an den See. Hinter der Mauer ragte ein Gebäude mit einem Ziegeldach auf, dessen Giebel fleckige, kupferne Drachenwappen zierten. Die Entführer führten Reiko durch einen Durchgang, in dem einst ein Tor gehangen hatte. Moosbewachsene Steinlaternen säumten einen Weg durch einen verwilderten Garten. Dieser Teil des Palasts schien noch bewohnbar zu sein, obwohl der Putz von den Mauern blätterte und die verwitterten Holzbalken des Fachwerks bloßlagen. Efeu überwucherte die Mauern und umrankte die Fenstergitter. Die Geister der Kriegsherren vergangener Zeiten schienen die Stille zu beleben. Reiko liefen kalte Schauer über den Rücken, als die Männer sie eine Treppe hinauf und durch eine geöffnete Tür in den Palast führten. An den Wänden eines düsteren Korridors hing zerrissenes, schimmeliges Papier. Die Holzplanken auf dem Boden waren mit dunklen Flecken übersät. Reiko spürte, dass hier vermutlich einst Blut geflossen war. Den Ort umgab eine Aura des Bösen, der ihre Angst noch schlimmer machte.
Würde auch ihr Blut bald hier fließen?
Sie bogen um eine Ecke und betraten den Empfangssaal. Bittersüßer Weihrauchduft schwebte durch die Luft. Risse in den Schiebetüren in der Wand gaben den Blick auf eine Veranda frei. Hinter einer Reihe vermoderter Tatami-Matten stand der Mann im Drachen-Kimono wartend auf einem Podium. Ein verblasstes Wandgemälde hinter ihm stellte eine märchenhafte Unterwasser-Landschaft mit Gärten und Pavillons dar, die von blauen Wellen und grünem Seetang überflutet wurden. Der Mann beobachtete Reiko, als seine Männer mit ihr den Raum durchquerten und vor ihm stehen blieben. Wieder spürte Reiko seinen düsteren, nachdenklichen Blick auf sich ruhen, und erneut verwirrte sie seine eigentümlich sehnsüchtige Miene.
»Lasst mich mit ihr allein, Ota -san «, befahl er ihrem Angreifer, der offenbar der oberste Gefolgsmann des Fremden war. »Ihr könnt alle gehen.«
»Aber sie ist gefährlich.« Ota blieb stehen und umklammerte noch immer Reikos Arm. Seine Kameraden rührten sich ebenfalls nicht von der Stelle. »Sie hat beim Überfall vier unserer Männer getötet. Heute Morgen hat sie Hiro und mich angegriffen. Ihr solltet nicht mit ihr allein bleiben.«
Reiko verspürte nicht die geringste Lust, mit diesem Mann allein zu sein. Obwohl sie Angst vor ihren Begleitern hatte, wünschte sie nun, sie würden bleiben.
Die Augen des Fremden funkelten vor Wut und Ungeduld. »Dann wartet draußen«, befahl er seinen Männern.
»Benehmt Euch gut, sonst werden Eure Freundinnen bestraft«, flüsterte Ota Reiko ins Ohr.
Dann ließ er sie los und verließ mit seinen Komplizen den Raum, doch Reiko spürte weiterhin seine Nähe. Sie sah, dass die anderen Männer auf der Veranda in Stellung gingen, um ihren Herrn zu beschützen.
Dieser trat von dem Podium herunter und schritt auf Reiko zu. Seine Nasenflügel bebten, als würde er die Witterung einer Beute aufnehmen. Auf seinen geschürzten Lippen schimmerte Speichel. Reiko verschränkte die Arme vor dem Busen und trat zurück. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Schwerter an der Taille des Fremden sah.
Hatten die Männer sie hierher gebracht, damit dieser Mann sie töten konnte? Hatte er sie und ihre Freundinnen entführt, weil er Freude daran hatte, hilflose Frauen zu
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