Der Palast
raffinierte Vergeltung für das Unrecht, das Hoshina -san begangen hat!« Er ballte die Hände zu Fäusten und kicherte. Doch als er Augenblicke später seine gefährliche Lage erkannte, wirkte er mit einem Mal ernüchtert und schien sich zur Vorsicht zu gemahnen. »Aber ich habe die Frauen nicht entführt. Ich bin kein Verbrecher. Ich habe Edo seit Monaten nicht verlassen. Ihr könnt jeden hier fragen.« Er zeigte auf das Fabrikgebäude.
Sano wusste, dass die Arbeiter ihrem Herrn Treue schuldeten und für ihn lügen würden. »Wann habt Ihr erfahren, dass Fürstin Keisho-in eine Pilgerfahrt unternehmen wollte?«, fragte er Naraya.
»Erst als auf den Nachrichtenblättern ihre Entführung gemeldet wurde«, entgegnete der Händler. »Ich kann es nicht getan haben.« Er kniff die Augen zusammen, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Wurden nicht auch die Bediensteten und die Begleitsoldaten der Fürstin niedergemetzelt? Hundert Menschen sollen an der Tōkaidō getötet worden sein, nicht wahr?« Naraya schüttelte im Bedauern um das Blutbad den Kopf. »Ich könnte niemals Blut vergießen, nicht einmal, um den Tod meiner Tochter zu rächen. Und ich bin nicht dumm genug, Hochverrat zu begehen, um mich an Hoshina -san zu rächen.«
Sano musste daran denken, dass sogar sein Schwiegervater, Magistrat Ueda, seine Berufsehre aufs Spiel gesetzt und das Gesetz gebeugt hatte, um seine Tochter zu retten. Auch er selbst würde jedes Risiko eingehen, um einen Menschen zu bestrafen, der Masahiro Leid zugefügt hätte. Vaterliebe war stärker als Vorsicht; deshalb konnten Narayas Unschuldsbeteuerungen Sano nicht überzeugen.
»Vielleicht würdet Ihr nicht eigenhändig töten oder Menschen entführen«, sagte Sano. »Aber Ihr hättet Edo ja gar nicht verlassen und die Drecksarbeit selbst erledigen müssen. Es gibt mehr als genug Verbrecher, die gegen Bezahlung jeden Auftrag übernehmen.«
Naraya schnaubte verächtlich. »Ich verfüge nicht über das Geld oder die Männer, um einen solchen Hinterhalt zu legen.«
Obwohl Sano wusste, dass auch bezahlte Mörder zu haben waren und Naraya es sich leisten konnte, fragte er sich, ob Schurken aus Edo es schaffen könnten, eine so starke Tokugawa-Truppe wie die niederzumetzeln, die Keisho-in und die anderen Frauen als Geleitschutz begleitet hatte. Im Laufe des Verhörs wuchsen Sanos Zweifel an Narayas Schuld.
Er wechselte das Thema. »Wann seid Ihr nach Edo gezogen?«, wollte er wissen.
Verwirrt über den jähen Themenwechsel, blinzelte der Händler Sano an. »Vor zwei Jahren.«
»Eure Familie führte das Unternehmen in Miyako seit vielen Generationen. Warum habt Ihr es nach Edo verlegt?«
»Der Konkurrenzkampf wurde immer härter«, entgegnete Naraya, der Sano einen verstohlenen Blick zuwarf, als dächte er über den Grund der Frage nach. »Das Geschäft läuft in Edo viel besser.«
»Eure Entscheidung hat nicht zufällig damit zu tun, dass Hoshina ein Jahr eher als Ihr nach Edo gezogen ist?«, fragte Sano.
»Nein.« Der Händler runzelte verwirrt die Stirn und blickte Sano an wie eine weise Eule. Er zeigte mit dem Finger auf den sōsakan-sama. »Ihr glaubt, ich wäre Hoshina- san gefolgt, nicht wahr? Ihr glaubt, ich wäre nach Edo gekommen, um mich an ihm zu rächen. Aber das stimmt nicht. An dem Tag, als ich hörte, dass er Miyako verlässt, habe ich ein Fest gefeiert, weil dieser Schurke die Stadt nicht mehr durch seine Anwesenheit beschmutzte. Würde es andere große Städte geben wie Edo, wäre ich stattdessen dorthin gezogen, um nicht dieselbe Luft atmen zu müssen wie Hoshina. Aber ich muss ans Geschäft denken, und die besten Geschäfte kann man nun einmal hier in Edo machen.«
Plötzlich verlor Sano die Geduld, das Verhör auf diese verhaltene, vorsichtige Weise weiterzuführen. Ihn überkam das dringende Verlangen, den Fall endlich zu lösen, Reiko zu retten und die Hinrichtung Hoshinas zu vereiteln. Wütend trat er auf den Händler zu.
»Schluss mit den Lügengeschichten!«, fuhr er Naraya an. »Wenn Ihr die Frauen entführt habt, solltet Ihr es mir lieber jetzt gleich sagen!«
Naraya schnappte nach Luft, die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Ich habe es nicht getan!«, rief er.
Doch für Sano bestand immer noch die Möglichkeit, dass Naraya der Drachenkönig war, und er wollte sich von dem Händler nicht zum Narren halten lassen. Er stieß den Mann gegen die Mauer und brüllte: »Lügt mich nicht an!«
»Aber … aber es ist die Wahrheit, Herr!«, stammelte
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