Der Palast
Blut. Als sie den Kopf zu ihm hob, verschleierten Tränen ihren Blick. »Lasst uns frei.«
Er zog die Stirn in Falten. »Warum wollt Ihr mich verlassen? Findet Ihr mich so abstoßend?«
»Nein, gewiss nicht«, beteuerte Reiko. Sie richtete sich auf und überlegte sich jedes ihrer Worte ganz genau, um seine Wut nicht noch einmal zu entfachen. Wer hätte schon sagen können, wozu dieser Verrückte fähig war? »Ich finde Euch sehr … hübsch. Aber der Turm ist kein Ort, an dem Menschen leben können. Fürstin Keisho-in ist alt und krank. Midori ist hochschwanger. Und Fürstin Yanagisawa hat eine kleine Tochter, die sie braucht.«
Doch Reikos Erklärungen langweilten den Drachenkönig. Sein Interesse galt allein ihr und nicht den anderen Frauen.
»Ich habe auch ein Kind.« Reikos Stimme bebte, als sie an Masahiro dachte. »Wir alle wollen nach Hause!«
Der Drachenkönig verschränkte die Arme und reckte sich. »Das ist unmöglich«, erwiderte er mit kühler Stimme.
»Habt Ihr keine Kinder? Vermisst Ihr Eure Familie nicht?«, fragte Reiko in dem Versuch, ein gemeinsames Thema zu finden und dadurch die Sympathie des Mannes zu gewinnen. »Wäret Ihr nicht lieber bei Eurer Familie als an diesem jämmerlichen Ort?«
»Ich habe keine Kinder. Ich habe keine Familie.« Der Drachenkönig sprach in anklagendem Ton, als wäre es Reikos Schuld.
Reiko gab die Hoffnung auf, ein vernünftiges Gespräch mit diesem Mann führen zu können. Offensichtlich war er nicht bei Verstand. »An wem wollt Ihr denn Rache üben?«, fragte sie. »Was hat man Euch angetan, dass Ihr unschuldige Menschen tötet und entführt?«
»Bald wird ganz Japan die Wahrheit kennen«, erwiderte er mit einem überlegenen, spöttischen Lächeln.
Enttäuscht über diese rätselhafte Antwort, versuchte Reiko es mit einer anderen Frage. »Wie könnt Ihr der Gerechtigkeit dienen, indem Ihr uns gefangen haltet?«
»Ihr werdet es erfahren«, sagte er selbstzufrieden.
»Es ist Hochverrat, die Mutter des Shōgun zu entführen und ihre Gefolgsleute niederzumetzeln. Ihr werdet niemals davonkommen.« Von wachsender Angst erfüllt, wagte es Reiko, dem Drachenkönig zu drohen. »Das Heer wird Euch jagen. Ihr werdet in Schande sterben, während Euer Feind ungeschoren davonkommt.«
»Das Heer wird mich nicht angreifen.« Der Drachenkönig reckte sein fliehendes Kinn und legte eine Hand auf sein Schwert. »Ich habe den Shōgun gewarnt, dass ich Euch alle töten werde, wenn er das Heer auf mich hetzt. Er muss mir diesen Wunsch erfüllen, oder er wird seine geliebte Mutter verlieren.«
Reiko hatte keine Ahnung, welcher Wunsch diesen Mann zu dem brutalen Verbrechen getrieben hatte. »Um was habt Ihr den Shōgun denn gebeten?«, fragte sie, denn ihre Neugier war fast so groß wie ihre Angst.
»Habt Geduld«, sagte der Drachenkönig herablassend. »Die Zeit wird es Euch sagen.«
Obwohl Reiko wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde, fragte sie dennoch: »Und was wird mit uns geschehen?«
»Das hängt vom Shōgun ab. Zunächst bleibt Ihr bei mir. Wir sollten unsere gemeinsame Zeit genießen.«
Er rückte näher an Reiko heran. Seine unnatürliche Wärme und der Weihrauchgeruch überfluteten sie. Sein keuchender, heißer Atem glitt über ihr Gesicht. Reikos Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen, wurde so groß, dass sie beinahe aufgesprungen wäre, doch sie sah Ota im Türrahmen und die Männer auf der Veranda stehen. Der Drachenkönig zerzauste ihr Haar und wickelte ein paar Strähnen um seine Finger. Reikos Körper überzog sich vor Abscheu mit einer Gänsehaut.
Abgesehen von ihrem Gemahl hatte kein Mann sie jemals auf so intime Weise berührt. Reiko wollte keinem anderen Mann als Sano gehören. Hätte nicht das Überleben von Keisho-in, Fürstin Yanagisawa und Midori auf dem Spiel gestanden, hätte Reiko das Schwert des Drachenkönigs ergriffen und sich auf ihn gestürzt.
Der Drachenkönig strich ihr Haar zu einer Seite. Sein heißer, feuchter Atem glitt über ihren Nacken, und seine Fingerspitzen berührten ihren Hals. Reiko erstarrte bei dem Gedanken an die schlimmste Demütigung, die eine Frau durch einen Mann erleiden konnte – sah man von Mord ab.
»Der Drache hebt seinen stacheligen Schwanz«, flüsterte er. »Sein majestätischer Körper schwillt an und pulsiert. Zwischen seinen glänzenden Schuppen steigt Rauch empor. Sein flammender Atem entzündet seine Leidenschaft.«
Diese obszöne Parodie eines Liebesgedichts ließ Reiko schaudern. Galle stieg
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