Der Palast
ihr in die Kehle, als sie sich im Geiste die qualvolle Vergewaltigung und die entsetzliche Schande ausmalte.
»Ein Meer des Verlangens umgibt die Prinzessin in dem Unterwasser-Palast. Ihre zarte, helle Haut errötet. Sie öffnet ihre rosigen Lippen einen Spalt. Ihr eigener Wille ertrinkt in seiner Macht. Sie muss sich ergeben.«
Seine Lippen berührten Reikos Ohr. Seine Hand strich zitternd über ihren Nacken. »Ergebt Euch, Anemone, meine hübsche, ertrunkene Prinzessin«, flüsterte er. »Belohnt mich für die Gerechtigkeit, die ich Euch widerfahren lasse.«
Bestürzt erkannte Reiko, dass dies kein Spiel war. Der Drachenkönig hatte den Bezug zur Wirklichkeit so sehr verloren, dass er vergaß, wer Reiko war, und sie für die Frau hielt, die er Anemone nannte. Er war nicht bloß exzentrisch – dieser Mann war verrückt. Musste Reiko die Hoffnung begraben, die Absichten dieses Wahnsinnigen zu durchschauen?
Die Unschlüssigkeit ließ Reiko erstarren. Wenn sie Widerstand leistete, könnten ihre Freundinnen ihr Leben verlieren; wenn sie den Annäherungsversuchen des Mannes nachgab, garantierte dies nicht ihr Überleben. Musste sie sich ihm ergeben? Oder sollte sie kämpfen? Würden er selbst oder seine Männer sie töten, wenn sie kämpfte?
»Ihr zittert«, bemerkte der Drachenkönig. »Ihr weicht vor meiner Berührung zurück. Warum wollt Ihr mich nicht?«, fragte er gekränkt.
Reiko wagte es nicht, zu sprechen oder sich zu bewegen. Er streichelte sie noch immer. Dann sagte er mit einer Stimme, in der freudige Erkenntnis mitschwang: »Meine Eile hat Eure weibliche Empfindsamkeit verletzt, nicht wahr? Ihr zieht es vor, dass wir unseren Liebesakt verschieben, bis wir wieder miteinander vertraut sind. Und Euer Wunsch ist mir Befehl. Das Warten wird unser beider Freude und Verlangen steigern.«
Der Drachenkönig nahm die Hand von Reikos Nacken, stand auf und rief seine Männer: »Bringt sie zurück ins Verlies.«
Reiko spürte eine so überwältigende Erleichterung, dass ihre Muskeln erschlafften und ihr ein Seufzer entfuhr. Doch als sie stumm den Göttern dankte, wusste sie, dass ihr lediglich eine Gnadenfrist eingeräumt wurde.
Die Männer betraten den Raum und umringten Reiko. Der Drachenkönig starrte sie mit glühenden Augen und finsterer, wollüstiger Miene an. »Lebt wohl bis zum nächsten Mal, meine liebste Anemone«, sagte er.
Als die Männer sie wegführten, betete Reiko, ein Wunder möge geschehen und ihr eine nächste Begegnung mit diesem Mann ersparen.
18.
D
ie Straße nach Izu bog in südwestlicher Richtung von der Tōkaidō ab und schlängelte sich durch gebirgige, kaum besiedelte Gebiete. Während Hirata und die Ermittler an diesem Nachmittag der Straße folgten, löste die Wolkendecke sich allmählich auf. Bald war der Himmel strahlend blau, und es wurde immer wärmer. Im Wechselspiel von Sonne und Schatten schimmerte der Zypressenwald in unterschiedlichsten Grünschattierungen. Aus Felsspalten drang Dampf; heiße, sprudelnde Quellen plätscherten, und aus Vulkankratern stiegen Rauchschwaden empor. Hirata galoppierte mit dröhnenden Hufen an den winzigen Dörfern an den Berghängen vorbei. Der Wind heulte in seinen Ohren. Die Geschwindigkeit und die Gewissheit, Midoris Pfad zu folgen, verliehen ihm frische Energie. An einer Kreuzung zügelten die drei Ermittler ihre Pferde. Ein schmaler Weg, der in Richtung Osten und Westen in die Wildnis abzweigte, kreuzte die Fernstraße.
In der jähen Stille hörte Hirata den Gesang der Vögel. Auf der rechten Straßenseite erblickte er eine Nische, die in einen Felsen gehauen war. In der Nische stand eine kleine Steinstatue des Jizo, dem Shinto-Schutzheiligen der Reisenden.
»Das ist der Schrein, den Goro erwähnt hat«, sagte Fukida.
»Hier haben die Entführer die Träger weggeschickt, damit die Männer nicht sehen konnten, welche Richtung sie einschlagen«, vermutete Marume. »Über diese Kreuzung haben sie die Truhen selbst getragen. Welche Richtung sie wohl genommen haben?«
Das schaurige Vibrieren in der klaren, hellen Luft schärfte Hiratas Instinkte. Er spähte in alle Richtungen. Ein innerer Kompass schien ihn zu Midori zu führen. »Hier entlang«, sagte er und ritt seinen Kollegen voraus in Richtung Westen.
Zuerst führte der Pfad ein Stück bergauf, dann bergab; daran anschließend schlängelte sich ein ebenes Wegstück zwischen Zypressen, Pinien und Eichen hindurch. Die hohen Bäume tauchten den Wald in düsteres Licht. Der Pfad war
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