Der Palast
fragte Marume. Allein der Gedanke, einen solchen Verrat zu erwägen, entsetzte ihn.
Auch Hirata beschämte dieser Gedanke. Ungehorsam war der schlimmste Verstoß gegen den bushido, den Ehrenkodex der Samurai. Wenn Hirata sich über Sanos Befehle hinwegsetzte, würde er nicht nur seine Ehre, sondern das Vertrauen des Mannes verraten, der sein engster Freund und zugleich sein Herr war.
»Wir können diesen Ort nicht verlassen«, beharrte er. »Bis wir in Edo sind, könnten die Entführer die Frauen woandershin gebracht haben. Vielleicht finden wir sie dann nie wieder.«
Marume und Fukida stimmten seiner Argumentation mit einem Kopfnicken zu, doch die besorgten Blicke, die sie wechselten, sprachen Bände.
»Würde der sōsakan-sama die Lage kennen, würde er uns neue Befehle erteilen«, versuchte Hirata sich einzureden. »Er würde uns befehlen, in den Palast einzudringen und die Frauen zu retten.«
»Wir wissen nicht, welche Befehle er uns erteilen würde. Außerdem haben die Entführer in ihrem Brief an den Shōgun geschrieben, dass sie die Frauen töten, wenn sie verfolgt werden.« Marumes zögernder Tonfall ließ den inneren Zwiespalt erkennen, seinem Vorgesetzten Hirata zu widersprechen.
»Sie werden uns nicht bemerken«, beruhigte Hirata ihn. »Wir sind nur zu dritt, und wenn wir leise und vorsichtig sind, werden wir keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Wir drei werden es nicht mit ihnen aufnehmen können«, widersprach Fukida. Er kaute an den Fingernägeln, wie stets, wenn er sehr nervös war. Dennoch sprach er mit der Überzeugung eines Samurai, der seine Pflicht kannte, seinen Vorgesetzten auf die unerfreuliche Wahrheit hinzuweisen. »Wir wissen nicht, mit wie vielen Entführern wir es zu tun haben. Sie haben sämtliche Begleitsoldaten und Bedienstete von Fürstin Keisho-in getötet, also müssen sie gute Kämpfer sein. Stellt Euch vor, sie erwischen uns auf der Insel. Wenn sie uns töten, können wir weder die Frauen retten noch dem sōsakan-sama mitteilen, wo sie sind.«
»Er hat Recht«, pflichtete Marume seinem Kollegen bei.
»Wir werden nicht geschnappt!«, entgegnete Sanos oberster Gefolgsmann entschieden. Hirata war wütend auf sich selbst, weil er gegen die Regeln des bushido verstieß, und auch auf die Ermittler, weil sie ihm trotzten. »Glaubt ihr, ich wäre nicht in der Lage, einen erfolgreichen Angriff zu führen?« Die Tatsache, dass er selbst am Erfolg einer solchen Aktion zweifelte, steigerte Hiratas Wut noch. »Zweifelt ihr an meiner Einschätzung der Lage?«
»Nein, natürlich nicht«, beteuerte Fukida rasch, doch seine Miene blieb skeptisch.
»Wollt ihr die Frauen denn nicht retten?«, fragte Hirata.
»Natürlich wollen wir das«, betonte Marume. »Uns steht ebenso wenig wie Euch der Sinn danach, zurück nach Edo zu reiten. Aber wir dürfen uns nicht über die Befehle des sōsakan-sama hinwegsetzen.«
»Unsere Ehre steht auf dem Spiel«, gab Fukida zu bedenken.
Hirata erkannte, dass ihm keine andere Wahl blieb, als Marume und Fukida zu zwingen, gegen die Regeln des bushido zu verstoßen. Doch er fürchtete, dass alles verloren wäre, wenn die beiden ihm nicht halfen, die Insel zu stürmen. Selbst wenn Fürst Niu die Entführungen nur mit der Absicht befohlen hatte, Midori und ihn, Hirata, zu trennen, bedeutete das nicht, dass Midori in Sicherheit war. Und dass der gewalttätige, unberechenbare daimyo noch nie ein Familienmitglied getötet hatte, war keine Garantie, dass er es nicht tun würde. Und die Entführer hatten bei dem Hinterhalt bewiesen, dass sie vor Mord nicht zurückschreckten. Hirata durfte keine Verzögerung dulden, die das Leben Midoris und ihres gemeinsamen Kindes gefährdete. Und Sano würde ihm sicherlich beipflichten, dass er Reiko und die anderen Frauen auf keinen Fall in den Händen der Entführer zurücklassen durfte.
»Der sōsakan-sama hat mich mit dieser Mission betraut«, beharrte Hirata. »Solange wir von ihm getrennt sind, müsst ihr mir gehorchen. Ich befehle euch, mit mir zur Insel zu fahren und die Frauen zu retten. Ich übernehme die volle Verantwortung.«
Fukida blickte Marume schweigend an. Schließlich nickten sie beide. Hirata sah, wie erleichtert sie waren, dass er diese Entscheidung für sie getroffen hatte, zumal auch sie darauf brannten, die Frauen zu retten – auch wenn sie von der Richtigkeit der Entscheidung nicht ganz überzeugt waren. Vor Erleichterung und Dankbarkeit atmete Hirata tief durch.
»Wie überqueren wir den See?«, fragte
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