Der Palast
Drachenkönig von der Reise berichtet und dieser sie als Belohnung verschont hatte, verlor für Sano an Glaubwürdigkeit. Es sah Hoshina ähnlich, eine Frau zu verdächtigen, die sich nicht verteidigen konnte, obwohl er keine Beweise gegen sie hatte, nur damit es so aussah, als würden seine Ermittlungen Fortschritte machen.
»Hier hat Suiren gewohnt«, sagte Chizuru, die Sano in einen kleinen Raum führte, der neben Fürstin Keisho-ins Gemächern lag.
Der Raum war spärlich eingerichtet mit einer Laterne, einem Schrank und einem niedrigen Tisch, auf dem ein butsudan stand, ein buddhistischer Altar, zu dem ein kleines Holzschränkchen gehörte, in dem die heilige Schrift lag. Rund um den butsudan waren Weihrauchbrenner und Gebetbücher verteilt.
»Sie ist sehr gläubig«, erklärte Chizuru. »Wenn sie zu alt ist, um hier zu arbeiten, will sie in ein Kloster eintreten.«
Sano öffnete den Schrank und durchsuchte dessen Inhalt. Er fand Bettzeug, einen Kamm und eine Bürste, ein Schreibkästchen und Kleider, die so schlicht waren wie die Gewänder einer Nonne. Er fand nichts, das Suirens guten Ruf hätte beflecken können.
»Ist Euch vor der Reise irgendetwas an Suiren aufgefallen?«, fragte Sano und schloss die Tür des Schranks.
»Nein, sie war wie immer – ruhig, heiter und tüchtig«, sagte Chizuru. »Obwohl sie beim Einpacken von Fürstin Keisho-ins Kleidung die Aufsicht führte und die unverhoffte Reise große Aufregung verursachte.«
»Ist sie ausgegangen oder hat sie jemandem eine Nachricht geschickt, bevor sie Edo verlassen hat?«
»Polizeikommandeur Hoshina hat mir dieselben Fragen gestellt, und ich gebe Euch dieselben Antworten wie ihm. Suiren ist nicht ausgegangen. Sie war viel zu beschäftigt. Und sie hat niemandem eine Nachricht geschickt. Ich weiß es genau, weil ich sämtliche Nachrichten überprüfe, die ins Innere Schloss geschickt werden oder es verlassen.«
Es schien, als hätte Suiren nicht mit den Entführern gesprochen, doch Sano musste sämtliche Seiten ihres Lebens beleuchten, ehe er sie von jeder Schuld freisprechen konnte. »Wo lebt ihre Familie?«
Madam Chizuru nannte den Namen eines Klans, der den Tokugawa seit Generationen diente und auf einem fernen Anwesen des Shōgun lebte. »Suiren sieht ihre Familie nie. Ihre Pflichten halten sie in Edo fest.«
»Hat sie Freunde in der Stadt?«, fragte Sano. Es bestand die Möglichkeit, dass die Leibdienerin sich mit Verbrechern eingelassen hatte und diese sie gezwungen hatten, alles über Fürstin Keisho-ins Reise zu berichten.
»Nicht dass ich wüsste. Sie verbringt ihr ganzes Leben hier im Inneren Schloss«, antwortete Chizuru. »Ich bezweifle, dass sie überhaupt jemanden außerhalb des Schlosses kennt.«
Es wurde immer unwahrscheinlicher, dass Suiren eine Komplizin der Verbrecher war. Vielleicht gab es überhaupt keine Komplizen. Vielleicht hatte der Drachenkönig von Fürstin Keisho-ins Pilgerfahrt erfahren, als er die Reisegesellschaft gesehen hatte, oder durch dahingehende Gerüchte. Doch Sano konnte die Theorie einer Komplizenschaft nicht völlig aufgeben, nur weil die Ermittlungen im Fall einer Verdächtigen ihn nicht weitergebracht hatten und er dem Mann misstraute, der die Theorie aufgestellt hatte. Der Komplize könnte ein Hofbeamter, ein Wachposten oder Diener sein – einer von hunderten von Menschen, die von der Reise erfahren hatten, ehe die Frauen und ihr Gefolge aufgebrochen waren. Es könnte sogar ein Mitglied von Sanos Haushalt sein, wo jeder wusste, dass Reiko und Midori mit Fürstin Keisho-in zum Fudschijama reisen wollten. Es war ein beunruhigender Gedanke für Sano, dass ein Gefolgsmann oder ein Bediensteter seines Hauses sein Vertrauen missbraucht haben könnte. Die Vorstellung, jeden zu verhören, erfüllte ihn mit Schrecken, vor allem, weil es möglicherweise gar keinen Komplizen gab.
Aber welche anderen Ermittlungswege standen ihm offen, die ihn nicht schon in eine Sackgasse geführt hatten? Und ob das Verhör Fürst Kiis erfolgreich gewesen war – im Unterschied zur Vernehmung das Händlers Naraya –, würde Sano erst erfahren, wenn Kammerherr Yanagisawa ihm Bericht erstattete. Also konnte Sano ebenso gut nach einem Komplizen suchen. Und dann konnte er auch seine Suche hier im Inneren Schloss fortsetzen und mit Ermittlungen über die anderen Personen beginnen, die die Mutter des Shōgun begleitet hatten.
»Zeigt mir die Gemächer sämtlicher Frauen, die zu Fürstin Keisho-ins Gefolge gehörten«, sagte
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