Der Palast
so schmal, dass die drei Ermittler hintereinander reiten mussten. Hiratas Blick fiel auf Pferdemist und zertrampelte Blätter.
»Hier hat jemand vor kurzem Pferde entlanggeführt«, sagte er. Bald darauf entdeckte er tiefe Fußabdrücke im feuchten Boden. »Und vermutlich hat jemand schwere Lasten über diesen Weg transportiert.« Sein Herz schlug schneller, als seine Überzeugung wuchs, dass diese Straße ihn zu Midori und den anderen Frauen führen und dass er seine Pflicht Sano und dem Shōgun gegenüber erfüllen würde.
Nachdem sie ungefähr eine Stunde geritten waren, sahen sie eine sonnenbeschienene Lichtung im Wald. Hirata, Fukida und Marume stiegen aus den Sätteln und schritten vom kalten Schatten ins warme Sonnenlicht. Als sie auf die helle Lichtung traten, blinzelten sie. Die Spur führte einen kurzen Abhang hinunter; Baumwurzeln ragten aus dem Boden. Der Abhang endete vor einem Holzsteg. Dahinter lag ein See, der von einem Sumpfgebiet umgeben war. Eine leichte Brise kräuselte die Oberfläche des Wassers, das in Gold-, Kupfer- und Silbertönen schimmerte. In der Mitte des Sees, ein paar hundert Schritte vom Waldrand entfernt, wo Hirata und seine beiden Ermittler standen, lag eine Insel. Am Ufer dieser Insel ragte ebenfalls ein Steg ins Wasser, an dem drei Boote festgemacht waren. In der Nähe des Ufers standen die weißen Gebäude einer Festung mit geschwungenen Ziegeldächern, einer Steinmauer und Wachtürmen.
Hirata, Marume und Fukida starrten mit offenen Mündern über den See hinweg – die Hände schützend über die Augen gelegt.
»Eine Insel mit einem Palast in dieser verlassenen Gegend?«, rief Fukida erstaunt.
»Das muss ein Relikt aus den Zeiten der Bürgerkriege sein«, vermutete Marume. »Der Wald und der See schützen den Palast vor Angriffen.«
»Und er ist bestens als Gefängnis geeignet«, meinte Hirata. Zum ersten Mal, seitdem er von Midoris Entführung erfahren hatte, erhellte ein Lächeln seine Züge. Neue Energie beflügelte ihn, und die Teilnahmslosigkeit fiel von ihm ab. Endlich zahlten seine Bemühungen sich aus. »Hier müssen die Entführer Midori, Reiko, Keisho-in und Fürstin Yanagisawa hingebracht haben.«
Die drei Männer blickten auf den Palast, ohne eine Spur von den Frauen zu entdecken. Eine dünne Rauchfahne stieg über den Dächern auf. »Der Palast ist bewohnt«, sagte Marume.
Durch das Palasttor schritten vier Samurai mit Schwertern, Bögen und Köchern. Hirata, Marume und Fukida versteckten sich rasch im Wald und beobachteten die Samurai. Sie teilten sich in zwei Gruppen auf und liefen in entgegengesetzte Richtungen davon.
»Sie patrouillieren auf der Insel«, sagte Fukida.
»Vielleicht wissen sie noch nicht, dass der Bürgerkrieg vorbei ist«, spottete Marume. »Aber ich wette, sie bewachen den Palast, weil die Mutter des Shōgun dort gefangen gehalten wird und niemand das Gebäude betreten soll. Das würde bedeuten, wir sind am Ziel.«
Die drei Ermittler blickten einander an und lächelten. Hiratas Freude, Midori so nahe zu wissen, war grenzenlos.
»Wir müssen den sōsakan-sama informieren, dass wir das Versteck der Entführer gefunden haben. Sollen wir nach Hause reiten?«, schlug Marume vor.
Dieser Vorschlag stieß bei Hirata auf erheblichen Widerstand. Er wandte sich von den Ermittlern ab und spähte zwischen den Bäume hindurch auf die Insel. Sein Gefühl sagte ihm, dass Midori in diesem mysteriösen Palast gefangen gehalten wurde und seinen Namen rief. Ihre unaufhörlichen Hilfeschreie und sein übermächtiger Wunsch, in der Nähe seiner Gemahlin zu bleiben, trieben ihn dazu, an diesem Ort zu verharren.
»Wir bleiben!«, sagte er entschieden zu Marume und Fukida.
Die beiden Männer schauten Hirata verwundert an. »Aber der sōsakan-sama hat befohlen, dass wir ihm über unsere Entdeckungen Bericht erstatten.« Fukidas besorgter Blick wanderte über den Palast und blieb auf Hirata haften. »Ihr spielt doch nicht etwa mit dem Gedanken, die Insel zu betreten?«
Hirata knirschte mit den Zähnen und trat von einem Fuß auf den anderen. Er focht einen inneren Kampf aus. Auf der einen Seite war sein brennender Wunsch, Midori zu retten, auf der anderen Seite die Gehorsamspflicht, den Befehl seines Herrn zu befolgen.
»Wir sollen uns den Entführern nicht nähern«, erinnerte Fukida ihn.
»Ich weiß.« Hirata wusste genau, dass die Pflicht ihrem Vorgesetzten höher stand als alles andere.
»Ihr wollt Euch doch seinen Befehlen nicht widersetzen?«,
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