Der Pate von Bombay
Person für die Jungs, für die Controller vielleicht fünfzig. Das hieß, für nur fünfundzwanzig, dreißig Lakhs an uns würde Bipin Bhonsle ins Parlament einziehen. »So billig kann man Demokratie kaufen?« bemerkte ich.
»Jetzt willst du wohl selbst Politiker werden.«
»Nicht mal, wenn sie die Sitze verschenken würden.«
»Warum nicht?« Er lächelte mild.
Ich zuckte mit den Achseln. Ich hatte einen Kloß im Hals, eine Mischung aus Erinnerung und Wut, und traute meiner Stimme nicht. Also spuckte ich aus dem Fenster und tat dieses ganze schmutzige Geschäft ab, die verlogenen Plakate, die sich andienenden Reden, die vorgetäuschte Demut, und Paritosh Shah kannte mich gut genug, um nicht nachzufragen. Er redete ohnehin nur zu gern wieder übers Geschäftemachen.
Nachdem er gegangen war, wandte ich mich meinen englischen Büchern zu. Ich brachte mir die Sprache selbst bei, mit Kinderbüchern, Zeitungen und einem Lexikon. Nur Chhota Badriya wußte davon, denn er hatte mir die Bücher und das Wörterbuch besorgt. Ich machte immer die Tür zu, wenn ich Englisch lernte, denn ich wollte nicht, daß mich jemand auf dem Boden hocken sah, einen unsicheren, stockenden Finger auf den Buchstaben, die ich mit langsamen Lippenbewegungen mühevoll zusammenfügte, bis sie ein Wort ergaben: »P-a-r-l-i-a-m-e-n-t«, Parlament. Es war erniedrigend, aber notwendig. Ich wußte, daß sich das eigentliche Geschäftsleben dieses Landes zu einem Großteil auf englisch vollzog. Leute wie ich und meine Jungs, wir benutzten englische Ausdrücke, setzten bestimmte Wörter flüssig und ohne Zögern in unsere Sätze ein: »Bole to voh ekdam danger aadmi hai! 093 « oder »Yaar, abhi ek matter ko settle karta hun« 668 oder »Us side se wire de, Chutiya« 648 . Doch wenn man nicht ganze Sätze herunterrasseln konnte, ohne innehalten, noch einmal ansetzen und sie qualvoll Wort für Wort aufbauen zu müssen, wenn man keine Witze auf englisch reißen konnte, gab es komplette Bereiche im eigenen Leben, die sich einem entzogen, die unsichtbar waren. Man konnte in einer Welt der Marathen leben, in einer hinduistischen Kolonie, in einem tamilischen Straßenzug, aber was stand auf diesen Reklamewänden, diesen aufragenden Botschaften, die ihre scharf umrissenen Schatten auf das Haus warfen, in dem man wohnte? Wenn man ein teures, »mit amerikanischem Knowhow entwickeltes« neues Shampoo kaufte, was stand da in Rot auf dem Etikett? Worüber lachten diese Leute, die in ihren weich gepolsterten Mitsubishi Pajeros sanft vorüberglitten? Es gab viele, die wie ich fern der englischen Sprache geboren waren und die bereitwillig in Unwissenheit lebten. Die meisten waren zu faul, hatten Angst, nach dem Wie, Was, Warum zu fragen. Aber ich mußte Bescheid wissen. Also nahm ich die englische Sprache, rang sie nieder, zwang sie, sich mir Stück für Stück zu erschließen.
Um vier Uhr nachmittags klappte ich meine Bücher zu, legte mich auf den Boden und hielt ein Mittagsschläfchen. Ich hatte ein gutes Bett mit weichen Kissen, aber darin schlief ich in letzter Zeit schlecht. Ein unkontrollierbares Zucken in meinen Gliedmaßen weckte mich auf, sobald ich am Wegdämmern war. Nachmittags auf dem harten Boden gelang es mir manchmal, eine Stunde zu schlafen, aber heute warf ich mich hin und her, den Kopf voller Zukunftspläne und Projekte, Gedanken an Expansion, Verdächtigungen dieses oder jenes Mannes und plötzlicher Erkenntnisse über einen anderen. Ich herrschte über mein Stück der Insel, doch meine Gedanken fanden keine Ruhe. Als um fünf einer meiner Jungs an die Tür klopfte, schoß ich mit heftig pochendem Herzen hoch. Ich wusch mir das Gesicht, atmete tief durch, und dann gingen wir. Einmal am Tag - zu verschiedenen Zeiten, aber jeden Tag - zog ich mit meinen Jungs durch mein Gebiet. Wir wählten verschiedene Routen, ich wollte Präsenz zeigen, wollte gesehen werden. Ich will nicht behaupten, daß ich keine Angst gehabt hätte, aber ich hatte gelernt, sie zu verstecken, sie unter einer dicken Schicht der Gleichgültigkeit zu verbergen. Seit sich die Kugel in mich hineingebohrt hatte, wußte ich, daß der Tod eine Realität war. Ich hatte keine Illusionen. Ich hatte erlebt, daß eine Frau, die an einem Tag noch quicklebendig ist, Hammel ißt, spottet und scherzt und mit ihren weiblichen Reizen spielt, die Augen übervoll von Lachen und Verlangen, am nächsten Tag bewußtlos in einem Krankenhausbett liegen kann, keuchend und mit offenem Mund. Ich
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