Der Pate von Bombay
Gaitonde«. Ich wurde gehaßt und gefürchtet. Das wußte ich. Und dennoch gingen wenig später unzählige Fotos ein. Über Mittelsmänner und Ehestifter schickten die Papas Bilder von ihren Töchtern. Paritosh Shah fächerte einen ganzen Stapel Fotos auf seinem Schreibtisch aus, wie Spielkarten. »Such dir eine aus«, sagte er.
Ich griff nach dem ersten Bild. Sie saß in einem seidigen grünen Sari mit goldenem Dupatta vor einem roten Hintergrund, das glatte Haar von der hohen Stirn straff zurückgebunden. »Die sieht aus wie eine Lehrerin«, sagte ich.
»Also die nicht. Nimm ein paar in die engere Auswahl. Bei denen werfen wir einen genaueren Blick auf den familiären Hintergund, Bildung, Naturell und Horoskop, und dann tun wir den nächsten Schritt.«
»Den nächsten Schritt?«
»Die Mädchen besuchen, natürlich.«
»Wir gehen zu ihnen nach Hause? Und sie serviert uns dann Tee, während die Eltern zusehen?«
»Ja, natürlich. Was sonst?«
Ich schnipste das Bild wieder auf den Tisch, wo es sanft zwischen die anderen glitt. »Das ist doch völliger Wahnsinn«, sagte ich.
»Was, Heiraten ist Wahnsinn? Bhai, die ganze Welt tut es. Premierminister tun es. Götter tun es. Was willst du denn sonst mit deinem Leben anfangen? Wofür ist der Mensch denn geboren?«
Wofür ist der Mensch geboren? Darauf wußte ich keine Antwort, also nahm ich die Fotos mit nach Hause und legte sie in Zehnerreihen auf den Boden. Sie flatterten im Luftzug der Klimaanlage, diese glattgepuderten, von Hoffnung schimmernden Gesichter. Es war April, und ohne diese eisige Luft schwitzte ich in meine Matratze und hinterließ feuchte Flecken auf dem Stuhl, selbst wenn der Ventilator auf die höchste Stufe gestellt war. Mein Blut war heiß und brauchte Winterluft, kältere als diese Stadt sie je verströmen konnte. Draußen in der Sonne klebte mir die Hose an den Schenkeln und versetzte mich in wütende Unruhe, und meine Schuhe hinterließen rote Ringe an den Knöcheln. In dieser Stimmung neigte ich zu Unbeherrschtheit und Rücksichtslosigkeit, deshalb hatten meine Jungs zusätzliche Stromkabel verlegen und eine neue Fensteröffnung in die Wand schlagen lassen, in der die Klimaanlage Platz fand, und nun hatte ich meine Kühlung. Trotzdem sahen die Gesichter auf dem Boden alle gleich aus. Sie waren durchaus hübsch, nicht sexy - wer wollte das schon bei seiner Ehefrau -, doch sie sahen ansprechend aus, freundlich und zurückhaltend. Sie waren hinlänglich kultiviert und gebildet, konnten zweifellos alle kochen und sticken, sie kamen alle in Frage, warum sollte ich also diese und nicht jene wählen? Ich wartete auf ein Zeichen von einer von ihnen, ein Augenzwinkern, während sie im kalten Luftzug flatterten. Da saß ich, Ganesh Gaitonde, Boß einer eigenen Company, Herr über Tausende von Leben, Todesbringer und großzügiger Wohltäter, vollkommen unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
»Bhai, es gibt Ärger.« Chhota Badriya klopfte heftig an die Tür. »Sehr großen Ärger.« Ich rief ihn herein.
»Was ist denn?«
»Die Lieferung von heute abend, Bhai. Die Polizei hat sie in die Finger gekriegt. Sie haben in Golghat auf der Lauer gelegen. Oberhalb des Strandes, hinter der Baumreihe. Sie haben gewartet, bis das Maal 381 von den Booten in die Laster verladen war, dann sind sie hervorgekommen, haben alle verhaftet und die ganze Lieferung beschlagnahmt.«
»Die ganze Lieferung« hieß: Computerchips, Vitamin-B-Komplex-Tabletten und Videokameras im Wert von vierzig Lakhs.
»Die haben Bescheid gewußt«, sagte ich. »Das hat ihnen jemand gesteckt.«
»Ja«, sagte Chhota Badriya.
»War es nur die Polizei? Keine Zollbeamten?«
»Nein, nur die Polizei.«
»Und wer?«
»Ein paar vom Bezirk 13. Kamath, Bhatia, Majid Khan, diese Truppe. Parulkars Jungs.«
Wir wußten beide, was das bedeuten konnte. Entweder hatte die Polizei den Tip von eigenen Informanten bekommen, oder einer unserer Konkurrenten hatten ihnen unser Maal zugespielt. Es gab damals vier andere große Companys in Bombay, die Pathan-Company rund um die Grant Road, die Truppe von Suleiman Isa in Dongri, Jogeshwari und Dubai, die Prakash-Brüder und ihre Company in den nordöstlichen Vororten und die Ahir-Company in Byculla. Jede dieser vier Gangs, fünf, wenn man die Rakshaks dazuzählte, mochte uns als einen Schwarm winziger Fische betrachten, an denen man sich leicht gütlich tun konnte. Die Pathans waren es wahrscheinlich nicht gewesen, die waren geschwächt von ihrem langen
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