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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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schrecklich. Er drehte den Zündschlüssel, legte mit metallischem Knirschen den Gang ein und fuhr schnell die Straße hinunter. An einer Stelle, an der sich die Abendspaziergänger drängten, brachte er den Wagen zum Stehen, direkt neben einigen übermütigen, Eis schleckenden Teenagern. Mary sah ihn aus großen Augen an.
    »Ich brauche eine Narial pani«, sagte er. »Und damit das klar ist: Ich will Ihnen nichts tun. Ich will nur mit Ihnen reden. In Ordnung?«
    Sie nickte und beobachtete ihn aufmerksam, als er einen Straßenhändler heranwinkte und zwei Kokosnüsse kaufte. Sie nahm ihre in beide Hände und trank sie in langen durstigen Zügen ganz aus. Sartaj hielt ihr seine hin. »Noch mehr?«
    »Nein.« Sie war erleichtert, noch nicht ganz entspannt zwar, aber sie bog sich nicht mehr von ihm weg.
    Sartaj trank aus seiner Narial, sah sie an und wartete.
    »Meine Schwester war fünfzehn, als sie nach Bombay kam«, sagte Mary. Sie schaute aus dem Fenster auf das sacht wogende Meer. »Ich wohnte damals mit meinem Mann in Colaba, und sie zog bei uns ein. Jojo und ich sind auf der Farm meiner Mutter bei Mangalore aufgewachsen. Unser Vater starb, als ich elf war. Nach meiner Heirat ging ich nach Bombay, und so kam Jojo zu John und mir. Sie war noch sehr jung, aber sie wollte unbedingt Krankenschwester werden und Englisch lernen, und zu Hause gab es nur eine Dorfschule. Unsere Wohnung war winzig, aber sie schlief auf dem Sofa, sie war ja meine kleine Schwester. Sie war damals noch so klein und dünn. Drei Pferdeschwänzchen machte sie sich immer. Ich fand, sie sah zuviel fern. Tag und Nacht saß sie im Schneidersitz vor dem Apparat. Aber John meinte, das sei gut für sie, sie müsse Englisch und Hindi lernen. Er zog sie oft auf und brachte sie zum Lachen. Sie würde nur die Werbung kennen, sagte er, und könne von nichts anderem reden als von Zahnpasta und Haarshampoo. Doch Jojo war sehr intelligent. Von Tag zu Tag nahm sie mehr von der Sprache auf. Nach einer Weile hatte sie keine Angst mehr und konnte alle unsere Einkäufe erledigen. Das war eine große Hilfe für mich, denn ich hatte eine Vollzeitstelle als Verkäuferin in einem Lederwarengeschäft. Sie war plötzlich so selbstbewußt. Sie hörte auf, diese Druckröcke zu tragen und legte sich eine neue Frisur und einen forscheren Gang zu. Nach einem halben Jahr war sie ein anderer Mensch. Ein Bombay-Girl. Irgendwann fing sie dann an, von Schauspielerei zu reden. Sie imitierte Film- und Fernsehschauspielerinnen und VJs. Das kann ich auch, sagte sie. Erst lachte ich und vergaß es wieder, aber sie fing immer wieder davon an, und schließlich wurde John aufmerksam. Warum nicht? sagte er. Schau sie dir an, sie ist so gut wie irgendeine von denen, besser sogar. Warum sollte sie das nicht können? Und er hatte recht. Sie war eine strahlende Erscheinung. Ich hatte es nicht bemerkt, weil sie ja meine kleine Schwester war, aber ohne ihre Pferdeschwänze war sie ein Star. Immer wieder stellte sie sich vor den Spiegel oder besah sich in den Fensterscheiben. Plötzlich bemerkte ich auch, daß die Nachbarn ihr nachschauten, wenn sie morgens die Treppe hinunterrannte, um Brot zu holen. Die Jungen auf der Straße warteten abends auf sie, nur um sie vorbeigehen zu sehen. Ich fing ebenfalls an, daran zu glauben. Schließlich ist jede Filmschauspielerin von irgendwoher gekommen. Niemand wird im Rampenlicht geboren. Die eine kam aus Bangalore, die andere aus Lucknow, viele stammten aus ganz normalen Familien. Und jetzt hatten sie Geld, jetzt waren sie berühmt. Warum also nicht auch Jojo? Warum nicht meine Schwester? Wir alle verfingen uns in dieser Phantasie. John hatte einen Freund, der bei MTV arbeitete, wenn auch nur als Buchhalter. Aber dieser Buchhalter kannte wieder andere Leute beim Sender, und so nahm sich John eines Tages den Nachmittag frei und fuhr mit Jojo nach Andheri East zu MTV, erst mit dem Zug, dann mit einer Autorikscha. Ganz aufgeregt kamen sie zurück. Ein leitender Angestellter bei MTV, ein Engländer, hatte gesagt, sie sei charmant und schön. Stellen Sie sich das vor: Einen Job bekam sie nicht, aber es begeisterte uns allein schon, daß sie ein Gespräch mit einem so wichtigen Mann gehabt hatte. Diese Riesenstrecke von unserer kleinen Wohnung bis zu MTV - und sie waren an einem einzigen Nachmittag hin- und zurückgefahren. Das Unmögliche war möglich geworden. Dann war der Sommer vorbei, und Jojo fing mit der Schule an, aber das war alles nicht mehr so wichtig.

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