Der Pate von Bombay
Zufluchtsort verlassen und wieder hinausmüssen in die schmutzigen Straßen mit ihren zahllosen Baustellen, dem chaotischen Verkehr und den mißmutigen, schwitzenden Fußgängern. Das alles war nicht schön, aber war es so schlimm, daß es den Tod verdiente? »Na, na«, sagte Sartaj, »Sie sehen das zu emotional.« Kambles romantische Ader, sein Zorn auf den Piloten amüsierten Sartaj, die völlige Vernichtung herbeizuwünschen erschien ihm allerdings stark übertrieben.
»Nein, nein, ich mein das ganz ernst«, sagte Kamble. »Es wäre besser, wenn alles zerstört würde.« Er fegte mit der flachen Hand über den Tisch. »Dann ist ein Neuanfang möglich. Sonst ändert sich doch nichts. Sonst machen wir einfach so weiter wie bisher.«
Erstaunlich, daß Kamble noch an Veränderung glaubte. Wie listig und unverwüstlich mußte diese Hoffnung sein, daß sie nicht aus der Brust dieses korrupten, habgierigen, gewalttätigen Mannes weichen wollte. »Aber wenn etwas passiert, wenn die Bombe hochgeht, dann sind wir alle dran. Nicht nur Sie und ich. Auch Ihre Eltern, Ihr Bruder, alle und alles. Wollen Sie das?«
Kamble zuckte die Schultern. »Are, Bhai, wenn wir weg sind, sind wir weg. Sterben müssen wir sowieso. Dann doch besser alle auf einmal.«
Sartaj mußte lachen über Kambles pathetischen Fatalismus. Aber Kamble war noch sehr jung. Seine Enttäuschung verlangte nach nicht weniger als einer Generalreinigung, einem Neuanfang. »Das ist doch albern«, sagte Sartaj. »Essen Sie lieber Ihr Huhn.«
Der Ober stellte ein herrlich rotes Chicken Tandoori und eine Platte mit einem hohen Stapel Rumali roti 538 vor sie hin. »Raita«, sagte Kamble, »bringen Sie noch Raita, Yaar.« Er riß ein großes Stück Hühnerbrust ab und kaute nachdenklich. »Verflucht, schmeckt das gut!«
Das Mughal-e-Azam stand mit der Sauberkeit auf Kriegsfuß, und die Ober waren langsam und mürrisch, aber das Chicken Tandoori war sensationell. Sartaj griff genußvoll nach einem saftigen Schenkel. Kamble schwenkte eine Handvoll Rumali roti, schob sich ein weiteres Stück Fleisch in den Mund und schloß verzückt die Augen.
»Was wir in diesem Land als Minimum brauchen«, sagte er, »ist ein Diktator. Einer, der alles in die Hand nimmt.« Er kaute vernehmlich. »Da müssen Sie mir doch recht geben.«
»Wenn der alles in die Hand nimmt, dann sind Sie dran. Bei Ihren vielen Aktivitäten.«
»Ach was. Nein, Saab. Wenn alles in Ordnung wäre, dann bräuchte ich diese Aktivitäten doch gar nicht, verstehen Sie? Ich tu nur, was ich tun muß, um im Kaliyug zu überleben.«
Das war ein unwiderlegbares Argument, ein perfekter Zirkelschluß. Kamble schwärmte für Perfektion: Wenn es schon keine perfekte Welt gab, dann wollte er die perfekte Vernichtung oder wenigstens den perfekten Diktator. Sartajs Magen rebellierte, und er wartete auf den Raita. Er versuchte sich zu erinnern, ob er je an solch reine Ideale geglaubt hatte, ob er je so jung gewesen war. Gewiß, er hatte Megha einmal für eine vollkommene Schönheit und sich selbst für den bestaussehenden Sardar in ganz Bombay, wenn nicht in ganz Südindien gehalten. Aber das war lange her. »Da wir nun mal im Kaliyug leben, mein Freund, sollten wir überlegen, was wir mit dem Piloten machen.«
»Sie wissen ja, was ich am liebsten mit ihm machen würde.«
»Sie können ihn nicht verprügeln. Ein paar Hiebe vielleicht, ja, aber mehr nicht. Überlegen Sie doch mal, Kamble. Es liegt ja nicht mal eine Anzeige gegen ihn vor, und er ist auch kein Straßenarbeiter aus Andhra. Der Chutiya könnte Ihnen enorme Schwierigkeiten machen, wenn Sie ihm ein Bein brechen oder so.«
»Ich wüßte ein paar Typen, die das für mich erledigen könnten.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Schon gut, schon gut.« Kamble schwenkte mißmutig einen Knochen. »Dann nehmen wir ihm Geld ab.«
»Und seine Spielsachen.«
»Das Heimkino?«
»Genau.«
Kamble kicherte. Zum ersten Mal an diesem Tag blitzte der alte wilde, wache Übermut in seinen Augen auf. »Die DVDs«, sagte er. »Ich will alle seine DVDs.« Er brach eine Hühnerbrust entzwei und zerrte an einem Stück Fleisch. »Haben Sie's ihr schon gesagt?«
Sartaj schüttelte den Kopf. Er hatte es Kamala noch nicht gesagt, und er freute sich auch nicht gerade darauf. Bestimmt würde sie in Tränen ausbrechen und vielleicht sogar hysterisch werden. Vielleicht würde sie Umesh und dann sich selbst verfluchen. »Wollen Sie's ihr sagen?«
»Ich? Sind Sie verrückt, Boß? Ich hab
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