Der Pate von Bombay
Angst vor mir.
»Zoya mochte mich«, wiederholte sie. »Gaitonde, du Trottel, du denkst, sie wäre Jungfrau gewesen und von deiner gewaltigen Männlichkeit beeindruckt. Du Chutiya. Sie hat ein Dutzend Männer vor dir gehabt und viele danach, und du warst der jämmerlichste von allen. Wirklich, du warst der kleinste.«
»Du lügst. Sie war Jungfrau. Das hast du mir selbst gesagt. Und sie hat es mir auch gesagt.«
»Jungfrau?«
»Ja.«
»Du Idiot. Was meinst du wohl, wie sie in dieser Stadt überlebt hat, bevor sie zu dir gekommen ist? Ihr bhenchod Männer bezahlt für Jungfrauen immer mehr, also ist sie für dich zur Jungfrau geworden.«
»Das stimmt nicht. Ich habe das Blut gesehen.«
Sie lachte so heftig, daß sie sich an der Tischkante festhalten mußte. »Gaitonde, von allen aufgeblasenen Gaandus auf dieser Welt bist du mit der größten Blindheit geschlagen. Are, in einem Umkreis von fünfzehn Kilometern wirst du zwanzig Ärzte finden, die eine Frau jederzeit wieder zur Jungfrau machen können. Die Operation dauert eine halbe Stunde und kostet fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Rupien. Und drei Wochen danach kann die erneuerte Jungfrau auf einem weißen Laken die Beine breit machen, damit irgendein kleiner Gaitonde all das Blut sehen und sich für ganz groß halten kann.«
Ich erschoß sie.
Die Glock lag in meiner Hand. Es roch nach irgendeiner Blume, einem Blatt mit einer bitteren Note. Ich erinnerte mich nicht an den Knall, aber meine Ohren waren betäubt.
Sie lag in der Tür zu dem Raum mit den Betten. Ich schaute auf das tröstende schwarze Metall in meinen Fingern hinab, dann ging ich zu ihr. Ja, sie war tot. Es trat noch Blut aus. Ein leichtes Zittern ihrer Wimpern im stillen Luftzug der Klimaanlage. Ihre Pupillen waren reglos. Und in ihrer Brust war ein Loch. Ich hatte nicht danebengeschossen.
Ich setzte mich. Ich ließ mich niedersinken und setzte mich neben sie. Jojo. Jojo. Ich sah die Rückseite eines Computers, aus der ein weißes Kabel baumelte. Dahinter eine weiße Wand. Ich schloß die Augen.
Als ich wieder erwachte, lag ich auf dem Boden, ihren Fuß direkt vor meinem Gesicht. Mir war kein Wegsehen, kein Ignorieren meiner Tat vergönnt. Ich war unvermittelt und vollständig zu mir gekommen und hatte keine Erinnerungslücke. Ich wußte, daß ich auf dem harten Boden neben Jojo lag und daß ich sie getötet hatte. Was mir jedoch zum ersten Mal bewußt wurde, war, wie kompliziert so ein menschlicher Fuß doch gebaut ist. Er besteht aus kleinen Polstern und Bögen, aus einem verschlungenen Geflecht von Muskeln und Nerven und aus Knochen, so vielen Knochen. Er krümmt sich, streckt sich, bewegt sich, er geht und hält durch. Seine Haut nimmt die Farbe der durchwanderten Jahre an, bis die Risse und Falten ein Netz bilden, das so kompliziert ist wie das Leben selbst.
Ich hielt Jojos Fuß. Ich wölbte die Hand um ihre Ferse und spürte deren kalte Reglosigkeit. Die Uhr an meinem Handgelenk blinkte mir die Uhrzeit entgegen. Sechs Uhr sechsunddreißig. Wir hatten um zwei zu Mittag gegessen. Hatte ich nur die paar Stunden geschlafen? Ich fühlte mich ausgeruht und hatte einen klaren Kopf. Dann sah ich es, sah, daß das Datum gewechselt hatte. Ich hatte über vierundzwanzig Stunden geschlafen.
Mach weiter. Aber womit sollte ich weitermachen? Noch mehr Geld, noch mehr Frauen, noch mehr Morde. Das hatte ich alles schon gelebt, ich hatte kein Verlangen mehr danach. Womit also weitermachen? Das fragte ich mich, als ich auf dem Boden neben Jojo lag. Ich fühlte mich wiederhergestellt, durch mein langes Ruhen auf diesem blutverschmierten Boden von Benommenheit, Unruhe und Erschöpfung erlöst. In diesem Zustand der Luzidität erkannte ich, daß Shridhar Shukla - Guru-ji - recht gehabt hatte. Ich konnte ihn nicht aufhalten, konnte gar nichts aufhalten. Ich gab mich geschlagen. Er hatte mich besiegt, weil er mich besser kannte als ich selbst. Er kannte meine Vergangenheit und meine Zukunft. Was ich tat oder nicht tat, spielte keine Rolle. Oder schlimmer noch, es spielte in jedem Fall eine Rolle. Was immer ich mich zu tun entschied, es würde zu seinem Plan beitragen und im Feuer enden. Die Welt wollte enden, und ich hatte nachgeholfen. Er hatte das Opfer vorbereitet, und jegliche Handlung meinerseits war Brennstoff für sein Feuer. Ich konnte den Gang der Dinge nicht aufhalten.
Ich rieb sanft mit den Fingerspitzen über die Risse in Jojos Ferse. War auch ihr Tod vorhergesagt gewesen? Sie hatte kein
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