Der Pate von Bombay
konnte er sich kaum vorstellen, einmal nicht mehr in dieser chaotischen, unmöglichen Stadt zu leben. Einen kurzen Urlaub von Zeit zu Zeit, mehr brauchte er nicht.
»Am Samstag komme ich nach Pune, Ma.«
»Sehr schön. Wir haben uns Monate nicht mehr gesehen.«
Sartaj war vor genau vier Wochen zuletzt in Pune gewesen, aber er hütete sich, mit ihr darüber zu streiten. »Brauchst du irgendwas von hier?«
Für sich selbst wollte sie nichts, aber sie hatte eine ganze Liste für Tanten und Onkel und Neffen und Nichten. Es war zwecklos, ihr zu sagen, daß es diese Dinge in einer großen Stadt wie Pune inzwischen genauso geben mußte; sie war Stammkundin in bestimmten Läden in Mumbai und hatte spezielle Anweisungen für Händler, die sie seit Jahrzehnten kannte. Sartaj kam jedesmal mit einer Tasche für sich und einem Koffer voller Kinderkleider, Süßigkeiten, Salzgebäck und Shampoos in Pune an, Geschenke für die vielen, die Ma lieb und teuer waren. Verwandte von ihr wohnten in der Nähe, und Sartaj konnte sich darauf verlassen, daß sie ihn über das Netz der Verwandten, das bis nach Punjab und noch darüber hinaus reichte, stets auf dem neuesten Stand hielt. Sie war unlösbar in dieser Familie verwurzelt, während er selbst Distanz hielt, nicht ganz getrennt war, aber doch irgendwie außerhalb stand, wie ein Planet, der sich auf seiner Umlaufbahn zu weit von seiner Sonne entfernt hat. Er hörte gern zu, wenn sie von Familienfehden und lange zurückliegenden Tragödien erzählte, wollte aber nicht in den fatalen Sog ihrer Schwerkraft geraten und zum Mitspieler gemacht werden. Sie nahm ein Buch mit Kinderreimen, das Sartaj mitbringen sollte, zum Anlaß, von ihrem Chacha 104 zu erzählen, der immer steif und fest behauptet hatte, er könne Englisch. Sartaj hatte die Geschichte schon viele Male gehört, aber jetzt tat er es gern und lachte an den richtigen Stellen.
Am Siddhi-Vinayak 594 verabschiedete er sich von Ma und lehnte sich lächelnd zurück. Er freute sich auf die Fahrt nach Pune. Am Eingang des Tempels drängten sich die Menschen, Gläubige, die dem Gott ihre flehentlichen Bitten und ihren Dank darbrachten. Von seiner goldenen Turmspitze gekrönt, schwang sich der Bau riesig und ebenmäßig zum Himmel empor. Sartaj fragte sich, ob es auch für Ganesh Gaitonde einen Ort gegeben hatte, den er von Bombay aus aufgesucht hatte, eine Kleinstadt oder ein Dorf, seinen Geburtsort. Er würde Katekar fragen.
Ganz am Schluß hatte Ganesh Gaitonde etwas von Gott und Glauben gesagt. Nun wußte er, ob es einen Gott gab, an den man glauben konnte, oder nicht. Gaitondes Seele interessierte Sartaj nicht übermäßig, aber es wurde Zeit, sich seinen Körper anzusehen, seinen und den der toten Frau. Es ließ sich nicht mehr länger hinausschieben. Sartaj verfluchte Gaitonde und fuhr weiter.
Als Sartaj am nächsten Morgen in die Leichenhalle wollte, protestierte Katekar wie erwartet. Der Mann sei tot, erklärte Katekar, er und die Frau würden tot bleiben, es bestehe also keine Notwendigkeit, jetzt noch hinzufahren, absolut keine.
»Sie können ja draußen bleiben«, sagte Sartaj. »Aber allmählich müßten Sie Leichen doch gewohnt sein.«
Die Leichenhalle war ein altes Sandsteingebäude, narbig und fleckig, aber noch immer schön mit seinen hohen Bögen und den steinernen Blumenornamenten. Sie stand im grünen Schatten eines riesigen Banyan-Baums 058 hinter dem K. D. Hospital. Sartaj setzte Katekar am Eingang des Krankenhauses ab, fuhr um das Gebäude herum und parkte an einer paanfleckigen Mauer. Bei aller Rationalität hatte Katekar einen Horror vor der Leichenhalle, dem Arzt dort und seinen Gehilfen, dem smaragdgrünen Licht unter dem Banyan-Baum. Es stinke dort, sagte er, man rieche es auf dem ganzen Klinikgelände, ein gelber Pesthauch dringe einem in die Kleider, sinke in die Taschen und bleibe dort haften. Sartaj freute sich über solch überraschend abergläubische Anwandlungen bei dem sonst so stabilen Ganpatrao Popat Katekar, diesem Mann der Wissenschaft. So konnte er wenigstens auch mit dem Finger auf etwas zeigen, wenn Katekar angesichts seiner, Sartajs, diversen romantischen Seiten ein spöttisch-überlegenes Grinsen aufsetzte.
Sartaj ging am Auskunftsschalter vorbei, an dem sich ein Grüppchen besorgter Männer nach verschollenen Freunden oder Verwandten erkundigte, dann einen dunklen Flur entlang und durch eine Glastür mit der Aufschrift »Kein Zutritt«. Unter trüben Neonröhren saß ein Gehilfe in
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