Der Pate von Bombay
Der große Gaitonde muß davongerannt sein, als ihn die Kugel erwischt hat. Die andere an der linken Schulter, hier.«
Sartaj beugte sich über Gaitonde und sah dessen feines Profil, die edle Stirn. Ein geborener König, dachte er, oder auch ein Weiser. Er mußte in den Spiegel geschaut und sich gefragt haben, was einmal aus ihm werden würde.
Dr. Chopra strich sich über seinen behaarten rechten Handrücken. Eine Klimaanlage sprang mit tiefem Grollen an, und der Gestank stieg von Gaitonde und den anderen zur Decke auf.
»Vielen Dank, Doktor-saab«, sagte Sartaj. Er hatte genug gesehen. Er straffte sich, ging mit schnellen Schritten zurück und schob sich seitlich an den Gehilfen vorbei, die die weiblichen Leichen wieder in die Kabine schichteten. In dem hellen Licht, das durch die Ritzen der Haupttür drang, lag ein schwarzer Fleischfetzen am Boden, ein Stück Kiefer mit drei Zähnen daran. Sartaj stieg darüber hinweg und flüchtete in die Sonne hinaus.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Dr. Chopra.
Sartaj stand schwer atmend neben dem Banyan-Baum, die Hand an der rauhen Rinde. »Warum können Sie diesen beschissenen Saal nicht kühl halten? Warum nicht?«
»Die Klimaanlagen fallen immer wieder aus, der Strom kommt und geht, und die Bevölkerung ist zu zahlreich. Die Leichenhalle ist zu klein.«
Ja, es war unfair, dem guten Dr. Chopra die Schuld zu geben. Er konnte nun wirklich nichts dafür, daß nicht genug Geld da war, zuwenig Strom, zuwenig Platz und viel zu viele Tote. »Tut mir leid, Doc«, sagte Sartaj. Er machte eine ausgreifende Geste, eine unbeholfene Bewegung, die alles ringsum einschloß. Dr. Chopra nickte lächelnd. »Danke«, sagte Sartaj.
»Ich hoffe, Sie sind weitergekommen.«
»Ja. Ja, ganz entschieden«, antwortete Sartaj, doch als er zum Jeep ging, war er sich nicht mehr so sicher. Sein kurz zuvor noch so naheliegender Wunsch, die Leichen zu sehen, erschien ihm jetzt absurd. Was hatte er erfahren? Er wußte es nicht. Das Ganze war Zeitverschwendung gewesen. Er wollte schnell weg, zurück aufs Revier, doch als er am Jeep anlangte, konnte er nicht einsteigen. Er kletterte über ein Mäuerchen aus bunten Ziegelsteinen in einen verwilderten Garten, suchte sich ein Fleckchen Gras und streifte seine Schuhsohlen daran ab, rieb sie hin und her, bis die Halme knisternd brachen und sein hämmerndes Herz sich beruhigte.
Shalini kochte, als Katekar nach Hause kam. Sie arbeitete als Putzfrau bei einem Arzt in Saat Bungla 543 und hatte nur diese eine Stelle, nicht, wie andere Frauen, drei oder vier. Sie konnten das Geld zwar gut gebrauchen, hatten aber entschieden, daß sie zu Hause sein sollte, wenn Mohit und Rohit von der Schule kamen, damit die Jungen nachmittags und am frühen Abend ihre Gegenwart spürten und sie ein Auge auf die beiden haben konnte. Das zusätzliche Geld war hochwillkommen, und es war gut, einen Arzt zu kennen, der eine Klinik hatte, für Notfälle. Katekar legte seine Matte und das Kissen auf den Boden. Er mochte es, wenn Shalini kochte, ihre Bewegungen lullten ihn ein, das Klappern der Kochlöffel, das hektische Hin und Her des Messers, das Fauchen der Gasflammen, das Zischen, wenn sie eine Handvoll gemischter zerstoßener Kräuter in die Pfanne warf. Er fühlte sich behaglich, wenn dann auch noch der langsam laufende Tischventilator sacht die Luft bewegte. Katekar konnte gut tagsüber schlafen, er speicherte den Schlaf wie ein Kamel das Wasser. Ein Polizist mußte das können. Er atmete tief ein.
Als er aufwachte, war es dunkel im Kholi, und draußen herrschte der abendliche Betrieb. Er drehte sein Handgelenk - es war halb sieben. »Wo sind die Jungen?« fragte er. Auch ohne hinzuschauen, wußte er, daß Shalini in der Tür saß.
»Sie spielen.«
Er setzte sich auf und rieb sich die Augen. Der Kocher ratterte, als sie die Pumpe betätigte, und ihr Gesicht leuchtete bronzefarben auf. »Sie streiten«, sagte Katekar, und es war offenkundig, daß er nicht die Jungen meinte.
»Ja.« Amritrao Pawar und seine Frau Arpana wohnten zwei Kholis weiter und stritten sich, soweit ihre Nachbarn es mitbekamen, seit elf Jahren ununterbrochen. Vier Jahre nach ihrer Heirat hatte sich Pawar eine zweite Frau genommen. Arpana hatte ihn verlassen und war zu ihren Eltern zurückgegangen. Einige Zeit später hatte man ihr versichert, die Sache sei nicht von Dauer gewesen, Pawar habe die andere verlassen, und alles sei vorbei. Arpana war zurückgekehrt, doch dann hatte die andere ein Kind
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