Der Pate von Bombay
Hemd und braunen Shorts an einem zerkratzten Metallschreibtisch. Er grüßte, und Sartaj holte tief Luft, zwinkerte und passierte eine grün gestrichene hölzerne Schwingtür. Der Raum, in den sie führte, hatte die Ausmaße eines großen Hochzeitssaals und war von zwei rechteckigen Oberlichtern und zwei Reihen Neonröhren hell erleuchtet. Der glatte braune Steinboden fiel zu einem quadratischen Abfluß in der Mitte hin ab. Auf den Steintischen zur Linken lagen zwei braune Leichen, nackt, beides Männer. Bei einem von ihnen war mit einem präzisen Rundumschnitt die Schädeldecke entfernt worden, so daß er wie die Karikatur eines Menschen mit abgeschraubtem Kopf aussah. Sein Gehirn lag als ordentliches graues Häufchen in einer Schale dicht neben ihm. Und rechts stand Dr. Chopra, Gerichtsmediziner am Rande des Abgrunds, in seine Arbeit vertieft. Er schaufelte Eingeweide in eine große, flache Schale. Sartaj wandte den Kopf ab.
»Dr. Chopra?«
»Ah, Sartaj. Moment, Moment.«
Sartaj betrachtete die Wand, folgte den Sprüngen in dem grauen Verputz zur Decke hinauf und wieder hinab. Dann zählte er die rostigen Gitterstäbe an den geschlossenen Fenstern und schätzte ihre Stärke. Von rechts kamen leise saugende Geräusche und ein nasses Knirschen. Anfangs hatte sich Sartaj, wenn er in Dr. Chopras Sektionssaal kam, viele Male gezwungen hinzuschauen, gemäß dem Grundsatz, daß ein Polizist sich unerschütterlich und unerschrocken alles ansehen müsse, woraus die Welt wahrhaft besteht, daß er alles registrieren müsse, ohne Abscheu oder perverse Faszination. Und er hatte gesehen, was Dr. Chopra freilegte, hatte es fertiggebracht hinzuschauen, und es war gar nicht so grauenvoll gewesen, nur das komplizierte Uhrwerk des Körpers, ein wäßriger Mechanismus von strenger, verschlungener Harmonie. Doch die Leichen hatten ihn bis in den Schlaf hinein verfolgt, der helle Streifen am Ringfinger einer zur Faust geballten Hand, die Stammestätowierung am Kinn einer Frau, die purpurroten Lippenstiftspuren an einer Unterlippe, schwach, aber deutlich sichtbar. Er hatte Fragmente der Toten angesammelt, kleine Erinnerungen an ihr Leben, bis sie zur Last wurden, und schließlich hatte er eingesehen, daß er nicht mehr den Stolz des jungen Mannes besaß, daß er sich seine Willensstärke besser für seine Arbeit, für seine eigenen Fälle aufhob. Jetzt schaute er nicht mehr hin.
»Fertig«, sagte Dr. Chopra.
Sartaj hörte Gummihandschuhe schnalzen und drehte sich mit schräg hochgerecktem Kopf um. Sein Blick fiel auf das Gesicht des Toten, und er betrachtete es einen Moment. Dann sah er Dr. Chopras dichte Mähne. Der Doktor war der haarigste Mensch, dem er je begegnet war. Seine Wangen zeigten schon jetzt, kurz nach zwölf, dunkle Schatten, und von seiner Brust zog sich ein dichtes, dunkles Gekräusel den halben Hals hinauf. Er wusch sich an einem Waschbecken die Hände.
»Doktor-saab«, sagte Sartaj, »ich muß mir Ganesh Gaitonde und seine Freundin ansehen.«
»Kein Problem. Die sind im Kühlraum.«
»Schon obduziert?«
»Are, Gaitonde war immerhin ein großer Bhai, nicht wahr? Er und seine Freundin kamen ganz oben auf die Warteliste.« Dr. Chopra lachte, ein echtes, fröhliches Lachen. »Soll ich sie holen lassen? Schneller geht's allerdings, wenn wir rübergehen.«
Seine Haltung und die Art, wie er die buschigen Brauen hochzog, hatten etwas Herausforderndes: wenn Sie das aushalten, Herr Polizist. Katekar haßte den Kühlraum. Er hatte ihn nur ein einziges Mal betreten, als er und Sartaj die Leiche eines Informanten suchten. Er hatte sich die Hand vor den Mund gehalten, hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war wieder gegangen, hinaus zu dem Banyan-Baum. Sartaj war geblieben und hatte die gesuchte Leiche gefunden. Er war also nicht zum ersten Mal hier, und er würde es auch diesmal schaffen. Er zuckte die Schultern. »Kein Problem.«
Ein schattiger Weg führte durch das verblassende Nachmittagslicht zum Kühlraum. Sartaj blinzelte. Im Weitergehen wurde der Geruch immer stärker, und als sie durch eine Tür in einen langen Korridor kamen, preßte er sich förmlich an seine Wangen. Die Fenster waren der sengenden Sonne wegen geschlossen, die Luft am Eingang gesättigt mit den Ausdünstungen der in Tücher gehüllten Leichen, die sich in Doppelreihen an den Wänden stapelten. Die Tücher waren feucht, der Boden unter den Regalen glitschig.
Sartaj nickte den Gehilfen zu, die am Ende des Korridors an einem Schreibtisch saßen.
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