Der Pate von Bombay
geweigert, ein Geständnis abzulegen und Selbstkritik zu üben. Doch Natwar Kahar wollte ein Exempel statuieren. Statt sie, wie es üblich war, zu enthaupten, tötete er sie kleinweise. Am nächsten Morgen rief er seine Leute zusammen und hackte ihr vor deren Augen Zehen und Finger ab, mit einer kleinen Axt, mit der im Lager Pfosten und junge Bäume entrindet wurden. Sie schrie und blutete, und Natwar Kahar lachte und ließ sie vom Lagerarzt verbinden. »Sie muß am Leben bleiben«, sagte er zu ihm. Der Mann war kein richtiger Arzt, nur eine Art Sanitäter, der noch nie mit mehrfachen Amputationen zu tun gehabt hatte. Mit Schußwunden und Schnitten aber kannte er sich aus, und so überlebte Ramdulari. Sie war sehr stark. Man legte sie in eine Grube hinter Natwar Kahars Hütte. Sie bekam regelmäßig zu essen, und im Lager wurde es zur Volksbelustigung, ihr dabei zuzuschauen, wie sie mit den Handballen die Nahrung aufnahm und sich bückte, um Reiskörner von der Erde aufzulecken.
Aadil sah Ramdulari drei Wochen nach ihrer Verurteilung. Er hatte die Geschichte von Natwar Kahars Bestrafung der verräterischen Witwe anfangs gar nicht geglaubt. Er hatte sie für gute Propaganda gehalten, deren abschreckende Wirkung verhindern sollte, daß sich so etwas wie der Zwischenfall mit Bhavani wiederholte. Noch als er in Natwar Kahars Lager kam, um eine Geldlieferung abzuholen, hatte er nicht vorgehabt, die Sache anzusprechen. Er hatte geglaubt, die Frau sei tot und der Fall abgeschlossen. Doch nachdem er die in Plastik verpackten Geldscheinbündel in seiner Tasche verstaut hatte, fragte ihn Natwar Kahar grinsend: »Möchtest du Ramdulari sehen?«
Der Name sagte Aadil nichts, und Natwar Kahar erklärte ihm voller Besitzerstolz, um wen es sich handelte. Aadil folgte ihm hinaus, die schwere Tasche über der Schulter. Der Gestank aus der Grube nahm ihm den Atem, doch Natwar Kahar ging unbekümmert weiter. Am Rand der schräg abfallenden Grube blieben sie stehen. In dem gelbbraunen Matsch am Grund regte sich etwas Großes. Was es war, konnte Aadil nicht erkennen. Es bewegte sich ruckend und zuckend seitwärts, ähnlich den kleinen Krabben, die am Ufer des Flusses aus dem Sand auftauchten. Plötzlich wurde ihm schwindlig, sein Magen krampfte sich zusammen, und er sah, daß dort unten eine Frau lag, jedoch in seltsam reduzierter Form.
»Vor vier Tagen haben wir ihr die Beine an den Knien und die Arme an den Ellbogen abgehackt«, sagte Natwar Kahar und schlug sich mit der Handkante auf den Arm. »Ich war mir sicher, das gibt ihr den Rest, so wie die geblutet hat. Aber das Miststück stirbt einfach nicht.«
Ramdulari sah Aadil an. Er schwankte, unfähig, den Blick abzuwenden. Ihre Augen waren riesig, dunkel und fern, und er konnte nichts darin lesen, weder Kummer noch Schmerz. Das dunkle Haar lag um ihr Gesicht, und ihre Lippen zogen sich zurück. Sie sagte etwas. Aber was? Er war sich sicher, daß sie etwas sagte, doch es ging in dem Dröhnen unter, das in seinem Innern war, in seinen Armen, seinen Beinen, seinem Bauch, wie tausend schlagende Flügel. Jetzt sagte Natwar Kahar etwas. Was?
»Wenn wir ihr Wasser und was zu essen auf die andere Seite stellen, da drüben hin, dann kriecht sie rüber. Es dauert Stunden, aber sie schafft's. Sie stirbt einfach nicht.«
Beim Klang von Natwar Kahars Stimme erwachte Aadil aus seiner Trance, und endlich konnte er den Blick abwenden. Natwar Kahar beobachtete Ramdulari, bewundernd, respektvoll geradezu. Er rieb sich das Kinn. Aadil hörte seine Finger über die weißen Bartstoppeln schaben. »Die ist stark wie ein Pferd«, sagte Natwar Kahar.
Aadil taumelte zu einem Baum, stützte sich daran ab und übergab sich. Natwar Kahar wartete, bis er fertig war, und strich sich über den Schnurrbart, den anderen Arm quer über der Brust.
»Das war der Geruch«, sagte Aadil. »Furchtbar.«
»Are, Professor«, erwiderte Natwar Kahar mit einem breiten Lächeln, »immer noch der alte, nach all den Jahren.«
Aadil redete nicht davon, wie abgehärtet er war, erinnerte Natwar Kahar nicht an seine vielen Überfälle, seine Einsätze, ließ sich auf keine Diskussion ein. Er wollte nur noch weg. Nach einer Stunde brach er mit seinen Bodyguards auf, obwohl es noch lange nicht dunkel war. Sie marschierten die ganze Nacht durch, über schmale Pfade und durch ausgetrocknete Flußbetten. Am Morgen erreichten sie ihren Unterschlupf in Jamui. Die Jungen legten sich schlafen, Aadil aber setzte sich ans Fenster und
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